Liebe Leserinnen, liebe Leser,
natürlich wäre es praktischer gewesen, wenn Sie die Quellenangaben und Lesetipps zum “Club der Idealisten” gleich im Anhang des Buchs hätten finden können. Nur neigt die Schreiberin dieser
Zeilen, wie Sie sicher bereits feststellen konnten, zu einem gewissen Überschwang, vor allem dann, wenn es um Bücher geht. Außerdem frönt sie gern der edlen Kunst vergnüglicher Abschweifung, wie
Querdenker und andere kluge Köpfe sie lieben. Sie wissen nämlich, dass ebendiese Technik nicht nur das eine oder andere erhellende Licht auf den Gegenstand der Betrachtung wirft, sondern dass sie
die oftmals überraschendsten neuen Sichtweisen eröffnet, indem sie mit ihrem Spottlicht auch ein paar dunkle Ecken ausleuchtet, die man sich sonst eher selten näher beguckt.
So sind aus den Anmerkungen unversehens noch einmal weit über hundert Seiten geworden. Sie hätten, soviel steht fest, das Buch in einen Ziegelstein verwandelt - und wer will schon einen
Ziegelstein mit sich herumschleppen? Jeder von uns ist, weiß Gott, schon mit mehr Gepäck unterwegs, als dass es sich noch unbeschwert leben ließe.
Zu dem federleichten Buchkonzept, das meinem Verleger und mir vorschwebte, hätte ein derartig umfangreiches Buch jedenfalls gar nicht gepasst. Wir fanden, dass der “Club der Idealisten” noch
bequem in einer Mantel- oder Jackentasche Platz haben sollte, auf dass man überall, sogar noch auf dem Bahnsteig, beim Friseur, beim Zahnarzt oder an der Supermarktkasse mal eben schnell ein paar
Seiten darin lesen kann.
Wenn die vielen Anmerkungen zum “Club der Idealisten” zurzeit nur in digitaler Form nachzulesen sind, sieht das also nach einer Notlösung aus. Aber sie hat auch ein paar nicht zu
unterschätzende Vorteile. Erstens kann man nämlich die eine oder andere Passage auch schnell mal an Freunde weiterschicken oder an Menschen, von denen wir wissen, dass sie sich ebenso den
Kopf über die Zukunft des Globus zerbrechen wie wir. Und zweitens lassen sich die Texte in diesem Dokument auch ausdrucken und unters Kopfkissen legen, wo sie eine wohltätige,
schlaffördernde Wirkung entfalten. Man kann überdies Postkarten oder Lesezeichen daraus machen, von mir aus auch Lampenschirme und Fröbelsterne, mir ist alles recht, solange ordentlich
zitiert und kein gewerblicher Zweck damit verfolgt wird, was echten Idealisten natürlich selbstverständlich ist.
Verschenken Sie die Anmerkungen also gern, Sie haben hiermit meine ausdrückliche Erlaubnis dazu! Wer weiß, vielleicht werden die Texte, die auch gut für sich allein stehen können, zu
so etwas wie einem Grundstock für ein ganz neues idealistisches Netzwerk? Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mich das freuen würde! Was lässt sich nicht allein schon mit ein paar Spickzetteln
bewirken, auf denen etwas Inspirierendes, Ermutigendes oder auch einfach nur “Bewusstseins-Erheiterndes” ( wie de Mello es nennt) nachzulesen ist - es wäre nicht das erste Mal, dass uns ein
einziges Zitat einen ganzen Tag rettet, den wir sonst vielleicht “in den Papierkorb verschoben hätten“.
Ein guter Satz kann Licht ins Dunkel der trübsten Gedanken bringen - was der Grund dafür sein dürfte, dass es in diesem schönen Land immer noch so viele Buchhandlungen gibt. Hier warten
Millionen guter, schöner und sehr wahrer Sätze geduldig darauf, von den Lesern gefunden zu werden, die sie gerade dringend brauchen. So manchem Autor und so gut wie allen Buchhändlern ist das
schon Belohnung genug. Zumindest wärmen sie sich an diesem Gedanken, wenn ihnen beim Blick auf ihre Kontoauszüge wieder mal das kalte Grausen kommt. Aber apropos kaltes Grausen.
Kluge Leute wissen: wer etwas Gescheites zum Lesen dabei hat, sei es nun digital oder auch durchaus analog, dem kann der tägliche Wahnsinn nicht allzu viel anhaben. Denn damit bringt man
sich nicht nur wieder auf Kurs, so man - zum Beispiel durch ein Übermaß schlechter Nachrichten - einmal davon abgekommen sein sollte. Man weiß auch: man ist nicht allein. Denn anderen geht es
genauso. Und es sind, wie wir beweisen konnten, nicht eben wenige. Die Guten, vergessen wir das nie, sind überall unterwegs, wenn auch zumeist inkognito.
Nun wissen Sie, warum mein wunderbarer Verleger Johannes Thiele und ich ein Buch machen wollten, das man auch bei Sektempfängen und anderen Veranstaltungen von zweifelhaften
Unterhaltungswert mit sich führen kann. Denn wie wir alle wissen, gibt es Zusammenkünfte, die eigentlich nicht ohne ein starkes Betäubungsmittel zu ertragen sind. Bei derlei Gelegenheiten, die
sich auch schon mal hinziehen können, erweisen sich gute Texte wie diese denn auch als überaus nützlich, wenn nicht gar als lebensrettend. Deswegen verdünnisieren sich vernünftige
Zeitgenossen unauffällig ( im Idealfall unter Mitnahme von ein bis zwei belegten Brötchen ), lesen ein paar Seiten und stellen sich danach erquickt wieder dem Alltag.
Das klappt wunderbar! So macht es auch mein geschätzter Kollege Ulrich Frewel, dem Sie im “Club der Idealisten” ja schon öfter begegnet sind und von dem Sie sich auch im zweiten Band des
“Clubs” so einiges erwarten dürfen. Er schreibt nämlich schon seit einer ganzen Weile an dem herum, was er mit einem Augenzwinkern sein “Konservationslexikon” nennt. Dabei handelt es sich um
ein Wörterbuch für Idealisten. Im Unterschied zum klassischen Konversationslexikon, wie es auch heute noch in den Bücherschränken der bürgerlichen Mitte zu finden ist, geht es in Herrn
Frewels Nachschlagewerk um all die Werte, die gerade verloren zu gehen scheinen. Doch darüber später mehr.
Ulrich Frewel ist, wie Ihnen nicht entgangen sein dürfte, ein überaus heller Kopf. Seit seinem fünfzehnten Lebensjahr ist er nie ohne mindestens ein Reclamheft unterwegs gewesen. Seither
hat er selbst noch auf U-Bahn-Rolltreppen, an Fahrkartenschaltern und im Kaffeehaus darin gelesen, wenn nichts anderes parat war und er hat noch nie Probleme gehabt, darüber mit Menschen ins
Gespräch zu kommen, die ebenso wie er mit blitzenden Augen unterwegs sind. Sie wissen: wer liest, hat mehr vom Leben. Schon weil er nicht Gefahr läuft, irgendwo vor Langeweile mit dem Kopf
aufzuschlagen. Oder sich vor lauter Stumpfsinn eine Migräne zuzuziehen, die man dann tagelang nicht mehr los wird! So ein Reclamheft passt selbst noch in den vollsten Rucksack, es ist nur
etwa smartphonegroß, wiegt aber so gut wie nichts und hat außerdem den nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass es unsere Aufmerksamkeit aufs angenehmste auf einen einzigen Gegenstand
richtet, statt auf drei Dutzend anderer gleichzeitig. Außerdem pfeift und blinkt und dudelt da nichts - man hat seine Ruhe, keiner redet einem dazwischen und das ist schon sehr, sehr
angenehm.
Die netzgewandte jüngere Generation scheint damit zwar kein Problem zu haben. Sie liest Texte wie diese auch auf dem Smartphone, mit etwas Übung kann man selbst da den allseits bekannten
Formen von Ablenkung entgehen, wie ich mir habe sagen lassen. Wie dem auch sei: ich wünsche Ihnen viel Spaß bei der Lektüre der nun folgenden Beobachtungen, die, soviel sei schon hier
verraten, zum Teil auch etwas fuchtig daherkommen. Ansonsten “mäandernden” sie ( wie mein hochkultivierter, fließend mehrere Idiome parlierender Verleger es nennt) fröhlich
durch die Weltgeschichte, berichten von klugen Büchern, die ebenso wie wir veraltete Denkmuster infrage stellen und zuweilen stöbern wir auch, wenn wir querfeldein unterwegs sind, die
merkwürdigsten Geschichten auf. Wie sagte Johannes Mario Simmel, den zu unterschätzen lange Mode war? “ Natürlich kann ein Schriftsteller die Welt nicht verändern. Aber er kann die
eine oder andere Sauerei abstellen!”
Versuchen wir´s einfach! Regen wir uns zur Abwechslung einmal über die wirklichen Schuldigen in dieser unübersichtlichen Gemengelage auf! Wenn jeder, dort wo er steht, tut, was er
kann, hätten wir die Sache bald aufs schönste im Griff.
Doch nun genug der Vorrede.
Fussnoten
1 Der amerikanische Psychologe und Wissenschaftsjournalist Daniel Goleman
( * 1946) hat mit den von ihm geprägten Begriffen der emotionalen bzw. der sozialen Intelligenz auf den IQ als Bemessungsgrundlage menschlicher Intelligenz ein völlig neues Licht geworfen, wofür
wir ihm ewig dankbar sein müssen. Denn bis knapp vor der Jahrtausendwende(!) galt besagter IQ allenthalben als das Maß aller Dinge, und dabei wäre es sicher auch geblieben, hätte Goleman
nicht den Nachweis erbringen können, dass diese Tests auf ein paar sehr fragwürdige Theorien zurückgehen. Sie sind das Geistesprodukt (Geizesprodukt?) eines, gelinde gesagt, schon sehr seltsamen
alten Knochens, über den es noch eine ganze Menge anzumerken gäbe, doch vielleicht genügt an dieser Stelle der Hinweis, dass die Tests in der Regel nicht nur zu fehlerhaften, sondern oft sogar
völlig falschen Ergebnissen führen. Außerdem läßt sich die Tatsache nicht von der Hand weisen, dass der IQ lange Zeit etwas vermessen zu können meinte, was nicht einmal richtig definiert
ist: Intelligenz ist nämlich ein ziemlich weites Feld. Bei dem Versuch, den Begriff abzugrenzen, können kluge Köpfe sich gut und gern einen ganzen Abend lang die Köpfe heiß
reden, wie jeder weiß, der das schon einmal versucht hat. Dass Schlauheit nicht dasselbe ist wie Klugheit, wissen Idealisten natürlich schon lange. Doch Golemans Verdienst ist es, darauf
hinzuweisen und dem guten alten gesunden Menschenverstand ein paar neue, schicke Namen zu geben: emotionale und soziale Intelligenz nämlich. Dafür hätte er eigentlich den Nobelpreis
bekommen müssen, denn tatsächlich sind seine Überlegungen, wie es in den Begründungen des Komitees immer so schön heißt, bahnbrechend. Außerdem haben sie dazu geführt, dass
Personalentscheidungen heute ein wenig anders aussehen als noch vor nicht allzu langer Zeit. Und noch etwas hat man seither gelernt: alle Wirtschaftswissenschaftler müssen sich jetzt auch mit den
erst seit kurzem so genannten Softskills auseinandersetzen, mit emotional intelligenteren Managementmethoden also. Ob´s was hilft? Ich wage es zu bezweifeln! Denn dahinter steckt ein
technokratisches Verständnis dessen, was unsere Gesellschaft zusammenhält, doch lassen wir es damit gut sein, sonst könnte man schon bei der ersten Fußnote der Verzweiflung anheimfallen. Denn
genau diese herzlose technokratische Auffassung, mit der die Ökonomie alles angeht, scheint der Kern dessen zu sein, was dem Globus gerade zu schaffen macht.
Golemans Bücher, die im dtv-Verlag bzw. bei Droemer Knaur erschienen sind, kann man sich direkt unters Kopfkissen legen und seine neuesten Überlegungen zum Thema Kreativität gleich mit: In
Konzentriert Euch! (2014) weist er nach, dass zu echten Leistungen nur fähig ist, wer das Talent hat, sich mit Begeisterung, Leidenschaft und Ausdauer in etwas „hineinzuknien“
und die Flinte auch nicht so leicht ins Korn zu werfen. So - und nur so - entsteht Kultur. Das sind, wenn ich jetzt mitgerechnet habe, gleich drei Bücher fürs Kopfkissen. Das ist vielleicht
ein bisschen viel. Zumal da noch ein paar andere Titel hingehören, die ich Ihnen auf den folgenden Seiten mit heißem Herzen dringend anempfehle.
2 Jakob Soedher ist übrigens der Autor einer ganzen Reihe von heiter-liebenswerten Krimis, die alle zwischen Lindau und München angesiedelt sind. Ich verwende seinen nom de
plume, auch wenn das Pseudonym, unter dem er publiziert, ein Tick anders ist als hier angegeben. Doch abgesehen davon ist so gut wie alles an dieser Geschichte genau so wiedergegeben, wie
es sich ereignet haben dürfte.
Jakob Soedher ist übrigens häufiger in unseren Buchhandlungen anzutreffen. Er kommt auf einen Kaffee und einen Plausch und er signiert, wenn wir ihn lieb drum bitten, auch ein paar seiner Bücher.
Dabei muntert er uns alle mit unfehlbar guter Laune auf, was wir vor allem bei Nebel und Dauerregen sehr zu schätzen wissen.
3 Es hat sogar die seit den Siebziger Jahren des vergangenen Jahrtausends überaus beliebte Formulierung “Ich stehe gerade im Stress” abgelöst und dankenswerterweise auch das
nervtötende “Ich sitze gerade im Zug”, das vor allem Bahncardbesitzern regelmäßig den Vogel raushaut und den Wunsch auslöst, nach Kanada auszuwandern. Oder in ein Land, in dem derlei Sätze
- vor allem in Verbindung mit nervenden Klingeltönen - gesetzlich verboten sind. Aber im Ernst: laut Unfallstatistik stehen email-checkende bzw. SMS-schreibende
Verkehrsteilnehmer inzwischen ganz oben auf der Liste unfallbeteiligter Personen, wie Manfred Spitzer in seinem mutigen Buch Digitale Demenz (München: Droemer Verlag 2013)
eindrücklich belegt. Übrigens ist kaum ein Titel in den letzten ein, zwei Jahren so kontrovers diskutiert worden wie die Digitale Demenz. Am schärfsten wurde Spitzer übrigens von
Leuten kritisiert, die das Buch ganz offensichtlich gar nicht gelesen hatten. Ich weiß das so genau, weil ich Spitzers Beobachtungen ziemlich genial finde und die Talkshows dazu verfolgt habe.
Auch Harald Welzers neues Buch Die smarte Diktatur (Fischer-Verlag 2016) ist mehr als nur ein wenig Wasser auf die Mühlen überzeugter Technikmuffel: Welzer gehört zu den Trendsettern einer neuen,
vorwiegend analogen Kultur, die sich nur noch ausgewählter digitaler Werkzeuge bedient. Und die es genießt offline zu sein.
4 Zumal sein Navi auf den Namen Findefix getauft war! Ich fürchte ohnehin, dass Dominik K. die charakterbildenden Geschichten von Asterix und Obelix nie gelesen oder jedenfalls nie
verstanden hat, ebenso wenig wie er Gustav Schwabs Sagen des Klassischen Altertums kennen dürfte. Denn tatsächlich sind die Abenteuer dieser höchst sympathischen Dickköpfe so etwas wie moderne
Odysseen: da ziehen zwei Helden ( die durchaus über jeweils drei bis fünf Achillesfersen verfügen) in die weite Welt und sorgen mit pfiffigen Ideen (Asterix) und auch der einen oder anderen
wohlplatzierten Ohrfeige (Obelix) für ausgleichende Gerechtigkeit, obwohl sie beständig von einer weltbeherrschenden Übermacht bedroht sind, von der sich alle anderen auch wirklich
einschüchtern lassen. Nehmen Sie einen beliebigen Mythos (David und Goliath zum Beispiel) oder irgendein Grimm´sches Märchen, von mir auch einen Scifi-Streifen (Minority Report) - die Geschichten
bleiben sich im Grunde genommen immer gleich: dem/ der Mutigen, der/ die reinen Herzens gegen das Böse angeht, gelingt schließlich das Wunder, an das keiner mehr geglaubt hat. Die gerechte
Sache siegt immer! Man mag dagegen zwar einwenden, dass es in Wirklichkeit wohl kaum so ist, doch die Geschichte beweist, dass ein Koloss auf tönernen Füßen ein unsicher Ding ist. Weswegen ich
mir auch Asterix und Obelix an der Wallstreet zum Beispiel mal wünschen würde! Da könnten sie ihre satirische Gesellschaftskritik, die die ganz alten Asterix-Abenteuer auszeichnet, einmal
wieder so richtig anbringen. Würde vielleicht was helfen! Und vielleicht rettete eine solche Geschichte noch das eine oder andere Greenhorn, das schon drauf und dran war, seine Seele dem
Teufel zu verkaufen.
6 Vor allem der homo oeconomicus mit Bachelor- oder einem entsprechend anderen Titel! Spieltheoretiker haben inzwischen eine seltsame Beobachtung gemacht: Wirtschaftswissenschaftler höherer
Semester verhalten sich in eigentlich kooperativen Spielen deutlich selbstsüchtiger als Studienanfänger. Das heißt, sie lernen rücksichtsloses Handeln in der Regel erst nach und nach! Man erzieht
sie also dazu! Das gehört für mich zu den spannendsten neuen Erkenntnissen, über die der Motivationspsychologe Adam Grant in seinem ebenso spannenden Buch Geben und Nehmen berichtet (München:
Droemer-Verlag, 2013).
6 … ein zugegebenermaßen etwas spitzfindiges Wortspiel, das eigentlich nur noch der klassische Bildungsbürger verstehen wird, der weiß: derselbe und der gleiche ist durchaus nicht dasselbe,
auch wenn es inzwischen fast überall synonym gebraucht wird. Sätze wie „Der gleiche Mann, wo gestern Abend da war, war heute scheinbar noch mal da,“ führt bei sprachsensiblen Mitmenschen
inzwischen zu akuten Schüben von Kulturpessimismus, die sich vor allem bei Vollmond auch schon mal zu den schlimmsten Migräneattacken auswachsen können. Was aber soll man dagegen tun? Sich
unbeliebt machen, indem man seine Mitmenschen darauf hinweist, dass es nur derselbe Mann gewesen sein kann, der anscheinend da war, es sei denn, er hätte einen Bruder, der genau so aussieht? Das
macht natürlich niemand! Jedenfalls kein Idealist. Die Höflichkeit verlangt, dass er sich jeden Kommentar verkneift. Was dazu führt, dass derlei Sprachschlampereien irgendwann allgegenwärtig
sind. So ist das mit allem: „Wenn die Klügeren schweigen, regieren die Dummen die Welt“ - dieses, auf Marie von Ebner-Eschenbach zurückgehende Zitat ist auch an einer unserer Pinnwände
nachzulesen. Ebenso wie der schlichte Merksatz, den ich für unsere Lehrlinge entworfen habe, um ihnen den Unterschied zwischen derselbe und der gleiche zu verdeutlichen: „Mann kann zwar wochen-,
monate- und sogar jahrelang die gleichen Socken tragen. Nicht aber dieselben! ( Zumindest nicht, wenn einem an menschlicher Gesellschaft gelegen ist) “ Diese sehr simple Unterscheidung
leuchtet sofort jedem ein. Eine einfache Eselsbrücke wirkt manchmal eben Wunder. Vielleicht könnten wir den Kennzahlenverwaltern in Politik und Wirtschaft auch mal ein paar Merksätze
zurechtbasteln, die das leider inzwischen kontaminierte „Wir sind das Volk!“ ersetzen. Zum Beispiel: No bullshit! Ein solcher Slogan hätte den Vorteil, dass er auf der ganzen Welt
verständlich ist und sich überdies noch durch eine gewisse
Bodenständigkeit auszeichnet. Was bullshit ist, weiß jeder. Vielleicht würden sich die bullshitter (wie die amerikanische Kulturkritik ihre Führungsriege nennt) dann überlegen, ob sie
uns weiter zum Besten haben wollen. No bullshit! - wenn ich den weiter unten beschriebenen Revolutionsbedarfsversand hätte (vergl. Fußnote No.40) würde ich gleich mal ein paar
Anstecker mit dem Text machen lassen, auf dass (mit Verlaub)die große „Volksverarsche“, wie der wunderbare Hannes Jaenicke sie nennt, endlich mal aufhört. No bullshit! Das unterschreibt Ihnen
auch sofort jeder Vegetarier. Und jeder Klimaexperte ohnehin, denn dieser bullshit stinkt nicht nur zum Himmel, er brennt überdies weitere Löcher in den ohnehin schon dünnen Firniss des Globus.
No bullshit - wäre, bei Licht besehen, auch ein guter Titel für ein Buch. Ich schenk ihn Ihnen. Schreiben Sie das Buch dazu!
7 Norden, Osten, Süden, Westen -das merkten wir uns auch mit so einer schönen Eselsbrücke Nie ohne Seife waschen.
8 Was vor allem deswegen traurig ist, weil diese Insel sogar die dickfelligsten Zeitgenossen zu verzaubern imstande ist! Die Mainau ist nämlich ein ganz besonderer Ort, denn hier scheint
das Gute zuhause zu sein. Auf der Insel liegt ein Segen, den jeder spürt, der sie besucht und von dem man noch wochenlang zehren kann, wenn man ihn sich ein wenig einteilt. Dutzende von Gärtnern,
die alle ganz offensichtlich das lieben, was sie tun, kümmern sich um die weitläufigen Anlagen und schaffen immer wieder neue, atemberaubende Ausblicke auf den See. Selbst Petrus scheint die
Mainau ins Herz geschlossen zu haben: die Insel hat, wenn mich nicht alles täuscht, immer ein paar Sonnenstunden mehr als jeder andere Ort der Republik. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass
der wunderbare Lennart Bernadotte und seine liebenswerte Gemahlin Sonja inzwischen höheren Orts ein gutes Wort für das Paradies einlegen, dass sie in jahrzehntelanger unermüdlicher Arbeit
geschaffen haben. Dieser Lennart, der eigentlich ein Prinz war, mehr noch, ein schwedischer Erbfürst, wäre eigentlich König von Schweden geworden, hätte er nicht 1932 durch seine Heirat mit einer
Bürgerlichen sämtliche Titel und Erbansprüche verloren - zum Glück für uns, denn sonst sähe diese zauberhafte Insel völlig anders aus. Außerdem gäbe es in der Schwedenschenke (hinter dessen
Tresen der Graf zuweilen selber stand) keine Köttbullar - und ach, so einiges andere, Wunderbare, auch nicht, das sich der Prinz ausgedacht hat, um uns zu beglücken. Mich fasziniert diese
gewaltige Kreativität immer wieder, ebenso wie die Vorstellung, dass die europäische Geschichte, hätte es die Bernadottes nicht gegeben, völlig anders verlaufen wäre. Denn Jean-Baptiste
Bernadotte (1763-1844), der als Karl XIV.Johan den schwedischen Königsthron bestieg, spielte eine tragende, wenn nicht gar entscheidende Rolle in Napoleons Russlandfeldzug 1812 und den
Befreiungskriegen. Ohne die Allianz zwischen Bernadotte und dem russischen Zaren wäre alles anders gewesen, Napoleon hätte Schweden kassiert, es gäbe keinen Schwedenstahl und kein Ikea, keine
Köttbullar (s.o.) und keine Nobelpreisverleihung in Stockholm. Das ist alles sehr spannend - in einem meiner Läden gibt es dazu auch eine kleine Sonderausstellung und wer mag, kann sich die
Historie dort im Detail zu Gemüte führen. Kehren wir noch einen Augenblick zurück auf die zauberhafte Mainau, auf der zuweilen denn auch Mitglieder der schwedischen Königsfamilie zu Gast sind.
Heute führen die Geschwister Bettina und Björn Bernadotte das Lebenswerk ihrer Eltern mutig fort, was nicht eben leicht sein dürfte. Die Unbilden des Wetters können einem nämlich auch ganz leicht
einen Strich durch die Rechnung machen. Inzwischen ist die Mainau das ganze Jahr über geöffnet - täglich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, danach gehört die Insel wieder der Familie.
Es gibt darauf kein Hotel und keinen Tanzschuppen, denn die Bernadottes haben es immer verstanden, das Schöne zu kultivieren und nie einen bis ins Letzte vermarkteten Rummelplatz daraus zu
machen. Deswegen werden hier hin und wieder auch ein paar Märchen wahr, wie das folgende, das ich Ihnen in diesem Zusammenhang nicht vorenthalten kann. Es gehört auch zu den Geschichten, die es
nie in die Zeitung geschafft haben. Es ist schnell erzählt: vor nicht allzu langer Zeit begann eine junge, bemerkenswert hübsche Sozialarbeiterin für die gemeinnützige Stiftung der Familie
Bernadotte zu arbeiten - “Gärtnern für Alle” bemüht sich um die Integration benachteiligter junger Leute. Eines Tages lernte Christine Stoltmann einen jungen Gärtner kennen, einen Studenten
der Philosophie und Soziologie eigentlich, der aber während seiner Semesterferien auf der Insel aushalf. Dass er einer der Bernadotte-Söhne war, ahnte die jetzige Gräfin Christine damals
allerdings nicht. Ein Jahr später waren die beiden verlobt, kurze Zeit später verheiratet und inzwischen sind sie auch glückliche Eltern. Was wohl bedeutet, dass Märchen auch heute noch wahr
werden können. Auch wenn sie, das stimmt schon, nicht gerade auf der Tagesordnung stehen…
9 Als ich im vergangenen Frühjahr nach München fuhr, wies ich beim Vorzeigen meines Fahrscheins den Zugbegleiter darauf hin, dass ich am Morgen leider vergessen hatte, die neue
Bahncard einzustecken. Ich hatte also nur die alte dabei, die ein paar Tage zuvor abgelaufen war. Zur Belohnung bekam ich denn gleich ein Ticket, weil ich genaugenommen wirklich „ohne gültigen
Fahrschein“ unterwegs war. Da ich seit vielen Jahren die klassische Bahncard 50 abonniert habe und der Fahrschein für Hin - und Rückfahrt gelten sollte, hätte man der Einfachheit halber ja beide
Fahrten entwerten können, zur Strafe sozusagen, aber nein: man wird gleich als Schwarzfahrer gebrandmarkt, was einem einen schönen Frühlingstag schon ziemlich vermiesen kann.
10 Ganz ähnliche Ausdrücke finden sich in fast allen romanischen Sprachen: perder el norte, sagen die Spanier: den Norden verlieren, estar desnorteado die Portugiesen, perdere la
bussola die Italiener. Im Rumänischen ist es ähnlich, auch das Türkische und das Serbische verwenden, wie ich mir habe sagen lassen, ein verwandtes Bild. Erstaunt war ich, als ich im
Languedoc perdre la tramontane vernahm - die tramontane ist dort eigentlich ein aus Nordwest von jenseits der Berge („tras montana“) wehender trockener Fallwind. Aber er ist eben auch
der Name für den über dem Gebirge aufgehenden Nord- oder Polarstern. Er ist das hellste Gestirn des Kleinen Bären (alias kleinen Wagen) und diente Jahrtausende lang den Seefahrern zur
Orientierung. Wer ihn „verliert“, hat erst mal schlechte Karten.
11 Aus genau diesem Grund ist -Sie erinnern sich vielleicht daran - vor nicht allzu langer Zeit ein Öltanker im Mittelmeer auf Grund gegangen. Über die Sauerei, die er dadurch verursacht
hat, ist bei Greenpeace mehr nachzulesen.
12 Zum Thema Blender seien Ihnen die immer noch unübertroffenen Bücher von Roman Maria Koidl ans Herz gelegt, die beide (sehr zu Recht) auf allen Bestsellerlisten standen.
Blender: Warum immer die Falschen Karriere machen. München: Goldmann 2012, bzw. Scheißkerle. Warum es immer die Falschen sind (ebd. 2010). Auch Michael Schmidt-Salomons Streitschrift Keine
Macht den Doofen ( München:Piper 2015) ist ein Appell an die Vernünftigen, weder den Finanzakrobaten noch anderen Hasardeuren freie Hand zu lassen: warum nehmen wir es immer nur hin? Sehr
empfohlen sei an dieser Stelle auch Benedikt Herles´ Die kaputte Elite. Ein Schadensbericht aus unseren Chefetagen (München: btb 2014). An mahnenden Stimmen fehlt es keinesfalls: jede
Buchhandlung, die etwas auf sich hält, leistet hier Aufklärungsarbeit. Hier kann, wer mag, sich über den Stall, den es auszumisten gilt, erstmal informieren. Wie wir das im Detail hinkriegen
wollen, darüber muss man natürlich schon noch mal nachdenken. Hier ist, wie so oft, guter Rat teuer. Aber Herkules hat´s ja auch hingekriegt damals. Vielleicht könnten wir auch einen Fluss durch
besagte Ställe leiten, einen Informationsfluss?
13 Sie erinnern sich bestimmt: dieser Stratege setzte am 13.Januar 2013 die mit dreitausend Passagieren und einer tausendköpfigen Mannschaft besetzte Costa Concordia auf Grund,
weil er Lust hatte, statt des langweiligen Kurses, auf dem er unterwegs war, ein paar Damen zu beeindrucken, indem er sich (ohne auf etwas so Überflüssiges wie seine Seekarten zu achten) in
unbekannte Gewässer begab. Als ihm vor der Insel Giglio ein Fels in die Quere kam (mit dem natürlich keiner rechnen konnte!) begann sich das Schiff auch prompt zu sinken. Schettino, dieser
Galgenstrick, hatte daraufhin nichts Besseres zu tun, als sich schleunigst mit zehn seiner Offiziere auszubooten und alle anderen ihrem Schicksal zu überlassen. An Land begab er sich in
Hafenkommandatur, wo man ihn dazu aufforderte, gefälligst unverzüglich wieder an Bord zurückzukehren („Schettino, torni a bordo!“), worauf der „maledetto“ aber keine rechte Lust hatte. Er soll
sich die Rettungsmaßnahmen dann espressoschlürfend vom Hafen aus angesehen haben. Bis vor kurzem stand Schettino unter Hausarrest, fand das aber ganz ungerecht, weil er doch eigentlich nichts
Schlimmes gemacht hatte, wie er fand. Inzwischen hat man ihn richtiggehend eingebuchtet, was aber an seiner grundsätzlichen Einschätzung nichts geändert hat. Psychopathen bzw. an APD (=antisocial
personality disorder) leidenden Patienten haben grundsätzlich kein Unrechtsbewusstsein. Das kann man auch regelmäßig in den Interviews beobachten, die Börsenheinis nach den ebenso regelmäßigen
Börsencrashs geben. Die Jungs finden gar nichts dabei! Sie halten es auch für völlig normal, dass nach sie nach so einem Crash mit ungekürzten Bezügen nach Hause gehen. Sie haben ja eigentlich
nur ihren Job getan. Und da Pleiten systemimmanent sind, lässt sich nicht einmal viel dagegen einwenden.
14 Um einen von Nassim Taleb geschaffenen Begriff zu benutzen, über dessen wegweisendes Konzept des Schwarzen Schwans im nächsten Band des Handbuchs mehr in Erfahrung zu bringen sein
wird.
15 Im Original klingt´s übrigens noch schöner: „(…) there are known knowns; there are things we know we know. We also know there are known unknowns; that is to say we know
there are some things we do not know. But there are also known unknowns - the ones we don´t know we don´t know.“ Einen Film dazu gibt es auf youtube. Die deutsche Übersetzung stammt aus der Feder
von Arno Widmann (Berliner Zeitung vom 19.3.2011) Rumsfeld hat sich mit diesem Gestammel damals unsterblich lächerlich gemacht und seine PR-Leute versuchen noch heute, diese Scharte auszuwetzen,
allerdings ohne große Erfolg. Wobei der Satz selbst in einer Philosophie-Vorlesung ja durchaus brauchbar wäre. Rumsfeld benutzte ihn aber als Entschuldigung, als Ausrede für etwas, das
durchaus hätte verhindert werden können.
16 „Wie konnte es soweit kommen, dass der Wunsch das Richtige zu tun, als Charakterfehler angesehen wird?“, fragt auch Fanny Price in Jane Austen´s Mansfield Park (1811).
Das Phänomen ist also nicht ganz neu.
17 Ungelogen - ich war schockiert, als ich das in Susan Cains fabelhaftem Buch Still las (Still. Über die Bedeutung von Introvertierten in einer lauten Welt.
München: Riemann/ Goldmann 2011). Wenn ich eine Liste unserer wichtigsten Bücher aufstellen sollte: Susan Cain stände wahrscheinlich auf einem der ersten Plätze. Sie ist
das, was man drüben als a real eye opener bezeichnet. Auch Karen Duves Buch möchte ich Ihnen gern ans Herz legen: Warum die Sache schiefgeht. Wie Egoisten, Hohlköpfe und Psychopathen uns um
die Zukunft bringen. (Berlin: Galiani 2014) In diesem bestens recherchierten und stilistisch brillanten Buch weist sie auf die Ergebnisse neuerer sozialpsychologischer Forschungen
hin, die inzwischen davon ausgehen, dass etwa ein Prozent der Menschheit eine psychopathische oder soziopathische Persönlichkeitsstörung mitbekommen haben. Sie scheint zum Teil angeboren, zum
Teil erworben zu sein. Das klingt nach nicht viel - aber in der Summe kommen da schon eine ziemliche Menge Stinkstiefel zusammen. Es gibt also in allen Kulturen einen relativ konstanten
Prozentsatz von Durchgeknallten. Während ein Teil davon eine Verbrecherkarriere anstrebt, wird der Rest in unseren angeblich liberalen Wirtschaftssystemen nach oben gespült, wo er so
richtig Ärger macht. Und eventuell sogar eine Gefahr für alle darstellt: das macht Karin Duve sehr klar und sie schreibt auch nicht ( wie die Autorin dieser Zeilen) um den heißen Brei herum.
Diese neunundneunzig-zu-eins-Relation wird übrigens auch von anderen Autoren angeführt, wenn sie die Zahl der Oberteufel zu quantifizieren versuchen. Ein Prozent klingt nach einer quantité
negligeable. Aber wenn Sie einen schlimmen Backenzahn haben, einen eingerissenen Fingernagel oder ein Hühnerauge, ist das auch verhältnismäßig wenig. Aber es kann einem sehr zu schaffen
machen. Und achtzig Millionen Läuse im Pelz der Menschheit wird man eben auch nicht von heut auf morgen los, zumal wir noch kein passendes Gegenmittel gefunden haben. Dafür sollte man mal ein
paar Forschungsgelder zur Verfügung stellen, statt immer bloß für Projekte, die dann doch nur der Großindustrie beim Gewinnmaximieren helfen. Auf das Thema, das mich persönlich aufregt wie
noch mal was, komme ich bei Gelegenheit noch mal zurück.
18 Also auch die legalen Möglichkeiten, wenn auch nicht die legitimen. Unsere leider tendenziell etwas verblendeten Politiker basteln diesen Hanseln immer wieder die gesetzlichen
Rahmenbedingungen fürs Plündern zurecht. Über diesen angeblich „alternativlosen“, auch als Deregulierung bekannten Prozess wird in diesem Buch noch des öfteren die Rede sein, wenn auch eher
in den Fußnoten.
19 Dazu gehört zum Beispiel die Idee, kluge Köpfe ganz einfach nur zusammen zu bringen. Was wir dringend brauchen, sind Ideen- und Kontaktbörsen für alle, die ganz konkret etwas
ändern wollen. Ich würde mich freuen, wenn überall Clubs entstehen würden, Zukunftswerkstätten, in denen man sich mehr oder weniger planvoll Gedanken macht - die auch gesammelt werden, auch wenn
sie zunächst nach nicht viel aussehen. An jedem (Kneipen-)Tresen entstehen nämlich Tag für Tag Ideen, die durchaus Potential hätten, die aber, das ist leider wahr, fast alle verlorengehen
oder als (vielleicht nur vermeintliche) Schnapsidee eines frühen Todes sterben. Hin und wieder wird wohl mal eine auf einem Bierdeckel festgehalten, aber dann kann das Gekritzel wieder
keiner lesen und schon gehen durchaus brauchbare Idee den Bach hinunter!
Mein Tipp - sammeln Sie sie! Sammeln Sie alles, was nicht niet- und nagelfest ist, auch die scheinbar blödsinnigen Ideen. Und machen Sie was draus. Oder schicken Sie sie uns: wir
setzen sie auf die Website. Wir sind auch dankbar für Web-Adressen von Kreativen: daraus würden wir gern so etwas wie ein Adressbuch für Idealisten machen, das andere dazu inspirieren soll,
ganz ähnliche Steine ins Rollen zu bringen…
20 Dieses Phänomen kennen wir alle von der Autobahn: nach dem Motto „ Mir kann ohnehin nix passieren“ zieht so mancher LKW-Fahrer inzwischen ohne Rücksicht auf Verluste nach links und
beschert anderen Verkehrsteilnehmern damit Stressschübe, ohne die sie auch gut hätten auskommen können. Manchmal frage ich mich, ob unser Eindruck, die Welt werde nur noch von Rücksichtslosen
bevölkert, nicht auf diesen tatsächlich rauer gewordenen Umgang auf unseren Strassen zurückgeht, wo offensichtlich nur noch das Recht des Stärkeren/ Schnelleren gilt.
21 Die Fabel meint außerdem zu wissen, dass man das Wrack noch heute dort besichtigen kann, und tatsächlich soll, wie mir mein kanadischer Kollege Jean-Christophe Jolicoeur unlängst berichtete,
ein Busunternehmer aus Halifax die clevere Idee gehabt haben, regelmäßige Ausflugsfahrten zu einem Leuchtturm anzubieten, dem man die ganze Geschichte kurzerhand anzudichten wusste. Diese Reisen
sind offensichtlich auch immer ausverkauft, vor allem, seit der Unternehmer für kleines Geld ein paar ziemlich garstige, aber sehr eindrucksvolle Schrottteile besorgt und an den Strand dekoriert
hat. Er lässt auch einen früheren Leuchtturmwärter, der bei der Havarie dabei gewesen sein will, die schnurrigsten Geschichten dazu erzählen und zum Teil auch etwas gröberes Seemannsgarn
spinnen, was offensichtlich von seinem gutgläubigen, immer empathischen Publikum mit überaus großzügigen Trinkgeldern honoriert wird. Idealisten - das sei hier nebenbei erwähnt - erkennt
man ohnehin daran, dass sie stets ordentliche bis fette Trinkgelder geben. Doch zurück zu unserem Leuchtturmwärter: seine Gattin Daisy hat kurze Zeit darauf ein in dieser Weltgegend
auch als “shack” bezeichnetes Verkaufsbüdchen aufgemacht, wo es neben Duftkerzen, Räucherstäbchen, gebatikten T-Shirts, Schlüsselanhängern mit Peace-Zeichen, Jute-Taschen und
Makramee-Ampeln noch weitere Devotionalien für Althippies, Friedensbewegte und Woodstock-Veteranen gibt. Und natürlich auch Kaffee, oder sagen wir, das, was man in Nordamerika für Kaffee hält,
was andernorts aber unter der eher zutreffenden Bezeichnung Lurke bekannt ist.
Doch andere Länder, andere Sitten! In Nordamerika liebt man nun mal dieses Gebräu, das entsteht, indem man ein bis maximal zwei Kaffeebohnen quer durch einen Liter kochendes Wasser schießt. Und
vielleicht ist das ja auch gesünder und nachhaltiger als unsere europäischen Absude, die auch schon mal den einen oder anderen Herzklabaster auslösen.
Das Kaffeegeschäft läuft jedenfalls besonders gut, vor allem seit Daisy diese Idee mit den Donuts hatte, erzählte mir Jean-Christophe, als ich ihn unlängst in Quebec besuchte. Er ist mit
Daisy zur Schule gegangen und trifft sie auch wohl hin und wieder. Die nun folgende Nachricht habe ich also aus wohlinformierter Quelle und ausnahmsweise einmal nicht nur so vom Hörensagen.
Daisy sei in ihrer Jugend - so wie alle, die etwas gegen den Vietnamkrieg hatten - nach Indien gefahren, habe Siddharta und Henry David Thoreau gelesen, sei aber im Unterschied zu
vielen anderen in ihrer Seele stets der Hippie geblieben, der sie einst war, nur dass sie heute Thermostrumpfhosen unter ihren leicht psychedelisch anmutenden, stets ein wenig nach Patchouli
duftenden Gewändern trage. Sie habe sich eigentlich überhaupt nicht verändert, auch äußerlich nicht allzu sehr, findet Jean-Christophe. Sie sei immer noch das Mädchen von einst. Mit ihren
knapp siebzig Jahren sehe sie keinen Tag älter aus als fünfzig, schwärmte er, weswegen ich mutmaße, dass er ein wenig in sie verschossen ist. Vielleicht liege es ja daran, fügte er
hinzu, dass sie stets ein wenig “naturstoned” sei, wie man in Kreisen, die etwas davon verstehen, die Glücklichen nennt, die immer etwas high sind, ohne dass sie dafür ein Tütchen
brauchen.
Auch die Schreiberin dieser Zeilen hat diese höchst praktische Eigenart, die vielleicht bloß ein Gen-Defekt ist, wer weiß, aber immerhin ein sehr praktischer: wir sehen die Welt durch eine
rosa Brille, weswegen man wohl auch einen Teil dessen, was wir so von uns geben, getrost in der Pfeife rauchen kann.
Und doch: wer sich ein wenig in Geschichte auskennt, in der Geschichte menschlicher Geistesblitze vor allem, wird bestätigen können, dass gerade die Blauäugigen stets die pfiffigsten
Einfälle hatten, die die Geschäftstüchtigeren und die Gierigen dann unverzüglich vermarkten. Das scheint ein ewiges Gesetz zu sein.
Daisy hatte jedenfalls die feine Idee, ihre wirklich guten Donuts in Tüten auszugeben, auf denen nicht nur die denkwürdige Geschichte mit der Havarie noch einmal nachzulesen war, sondern auch ein
paar von ihr selbst verfasste, sehr idealistische Texte mit lauter guten, zur Selberdenken einladenden Ratschlägen, die alle mit “Do nut” beginnen: (“Do nut complain, Do nut do unto others
etc. Do nut just sit there, save the world. ) Diese Do-nut-Donuts, berichtete mir Jean-Christophe, seien plötzlich wie die sprichwörtlichen warmen Semmeln gegangen, zumal sie auch wirklich
sehr lecker sind, so wie unsere Berliner eben, wenn sie ganz frisch aus der Backstube kommen oder aus der Küche eines Profis, der sein Handwerk wirklich versteht. Denn Frittiertes ist bekanntlich
nicht eben einfach in der Handhabung. Aber Daisy habe sie, kein Mensch weiß genau wie, mit so einen wunderbaren Karamellgeschmack hinbekommen, der diese Teilchen zu absoluten Suchtmitteln
machte.
Doch eines finsteren Tages war alles vorbei, da nämlich ein Geschäftsmann, der vor der Sache gehört hatte, bei Daisy auftauchte und ihr für kleines Geld die Namens- und Autorenrechte dafür aus
dem Kreuz leierte. Jetzt erfreuen sich “Daisy´s Do-gooder Donuts”, wie er sie inzwischen nennt, auch im Netz größter Beliebtheit - trotz des ungeschickt gewählten Namens: der
do-gooder ist nämlich der amerikanische Cousin des deutschen Gutmenschen. Beide stehen nicht im Geruch der Heiligkeit, sondern werden hüben wie drüben gern als Heuchler diffamiert. Mit derlei
Einschüchterungsvokabeln kann man anständigen Menschen, die an Moral erinnern und an andere sperrige Richtlinien, gleich mal allen Wind aus den Segeln nehmen und sich gleichzeitig einen
Wettbewerbsvorteil verschaffen.
Übrigens spendet besagter Unternehmer einen Teil des Erlöses für wohltätige Zwecke, auch wenn er wohlweislich niemandem auf die Nase bindet, dass es sich dabei nur um 0,01 Prozent vom
Reingewinn handelt. Um Peanuts also. Zurzeit beackert er, wie man hört, zwar nur den nordamerikanischen Markt, doch es ist nicht auszuschließen, dass irgendein Parcel Service das industriell
hergestellte Gebäck demnächst auch in die Alte Welt befördert - wie heißt sie noch, eine von diesen Firmen? Fettex? Das passt doch!
Wenn sie frisch sind, mögen diese Fließband-Donuts ja noch essbar sein, doch ich wage zu bezweifeln, dass die Fettkringel, nachdem sie ein paar Tage in einem Versandkarton unterwegs waren,
noch zu etwas anderen taugen als zum Entenfüttern. Und selbst da muss man sich fragen, ob man eine anständige Ente, die was auf sich hält, mit derlei Gebäcken hinterm Ofen ( oder wo auch immer
die lieben Tiere sich üblicherweise aufhalten) hervorlocken kann bzw. sollte. Meiner Erfahrung nach essen nur Nerds - und Studenten kurz vorm Examen - Faschingskrapfen, die älter sind
als vierundzwanzig Stunden und die in punkto Bekömmlichkeit nur knapp hinter einem Flummi rangieren. In Einzelfällen sollen sie auch schon spontane Darmverschlüsse ausgelöst haben, doch darüber
wollen wir jetzt nicht genauer nachdenken und unsere Aufmerksamkeit lieber auf einen interessanten Aspekt dieser Geschichte lenken: sie ist ja nicht nur ein neuerlicher Beweis für etwas, was wir
alle wissen und worüber wir tagtäglich bis zum Überdruss informiert werden- dass es skrupellose Menschen gibt, die bloß darauf warten, alle anderen übern Tisch zu ziehen, um sich selber zu
sanieren. Doch damit nicht genug: jetzt sorgt unsere Politik dafür, dass diese G´schaftlhuber - wie man sie hierzulande nennt- noch fettere Gewinne machen können, indem man dieses
TTIP-Abkommen unterzeichnet, das einem Investorenschutz vor allem anderen Vorrang gewährt. Investorenschutz - mir kommen die Tränen! Die lieben, ach so armen Investoren! Man muss die Wölfe
vor den Lämmern schützen, die Jäger vor den Rehlein und die armen Schlangen vor den Fröschen! Wie sagte Liebermann zu Corinth damals, im Herbst 1933 ? “Ich kann gar nicht so viel
essen, wie ich kotzen möchte!” Das klingt vielleicht etwas krude, dürfte die Sache aber ziemlich genau treffen. Die Parallelen zwischen den Ermächtigungsgesetzen und dem, was gerade jetzt wieder
vor sich geht, sind zu deutlich. Sie fallen inzwischen sogar denen auf, die damals die Masern hatten, als das in Geschichte drankam. Und das will immerhin was heißen.
22 Achten Sie mal drauf: Menschen, denen nicht zu trauen ist, sind ganz leicht daran erkennbar, dass sie nie an etwas schuld sind. Es sind immer nur die anderen! Das scheint so etwas wie
eine soziologische Konstante zu sein. Man hüte sich vor solchen Unschuldslämmern. Leute mit Charakter geben immer zu, wenn sie etwas versaubeutelt haben. Sie lügen auch nicht. Ich wüsste übrigens
zu gern, wer diesen hanebüchenen Blödsinn aufgebracht hat, dass normale Menschen angeblich täglich vierzig bis zweihundert (!!) Mal täglich lügen (die Angaben variieren hier sehr stark).
Was für ein Humbug! Ich würde ja gern mal den Forschungsbericht sehen, der das beweisen zu können glaubt und mir die Konten seines Autors mal genauer ankucken: dass Lügen ( Täuschen, sich
Verstellen, sich Anpassen) etwas Normales ist, lass ich mir jedenfalls nicht verkaufen, denn die Absicht, die dahintersteckt, ist leicht erkennbar. Hier wird alles Lügen verharmlost. Was
den Lügenbeuteln natürlich gut ins Konzept passt und ein paar weniger charakterfeste Naturen dazu einlädt, es damit ruhig auch mal zu probieren - es sei ja völlig normal. Glauben Sie mir: es ist
nicht normal. Lügen gefährden Ihre Seelenruhe.
Eine Ausnahme sind höfliche Lügen, die absolut nötig sind und die ich gefälligst auch von anderen erwarte („Du siehst aber gut aus!“). Aber abgesehen davon lüge ich für meinen Teil so gut
wie nie, schon weil mir das viel zu anstrengend ist. Ein Lügner muss ja immerzu das Gebäude überwachen, das er sich da zusammengelogen hat - also, das wäre nichts für mich und ich gehe
stark davon aus, dass es Ihnen genauso geht. Vierzig Lügen am Tag, die angeblich normal sind? Irgendeiner muss dann ja meine und Ihre Lügen mitlügen, damit die Statistik wieder stimmt. Wer
soll denn da noch einen Überblick behalten? Aber vielleicht - das kann hier nicht ganz ausgeschlossen werden - vielleicht bezieht sich die Statistik ja auch auf die Kunst, sich selbst zu
belügen. Das ist aber was ganz anderes. Das ist nicht nur erlaubt, sondern nötig! Echte Idealisten müssen sich schon allein deswegen was vormachen, weil sie sonst die Flinte ins Korn
werfen. Wenn man sich nicht anlügt, sitzt man bald den ganzen Tag mit wackelndem Kopp auf dem Sofa, was es unbedingt zu vermeiden gilt! Wie sollen wir sonst die Welt retten?
23 Mit meinem geschätzten Kollegen Ulrich Frewel habe ich jahrzehntelang in Rothenburg ob der Tauber eine Buchhandlung geführt, die übrigens 2004 einen vom Börsenverein
des Deutschen Buchhandels ausgeschriebenen Preis als beliebteste Buchhandlung Bayerns erhielt. Als Ulrich Frewel (*1934) in Rente ging, haben wir die Läden verkauft: seither widmet er sich
ganz seiner geliebten Photographie. Er ist spezialisiert auf historische Phototechniken, die er -zusammen mit vielleicht noch einer Handvoll ähnlicher Idealisten weltweit- zur
Perfektion beherrscht. Seine Bilder haben Tonwerte von tiefstem Schwarz bis reinstem Weiß, von denen digitale Photokunst nur träumen kann, da sie auch andere Papiere verwendet. Seine
Lieblingstechnik ist die Kallitypie, ein spezielles, Mitte des 19.Jahrhunderts entwickeltes Verfahren, das Bilder von unvergleichlichem Schmelz ermöglicht. Ulrich Frewel ist heute, wie sich
leicht errechnen lässt, über achtzig, nimmt aber an einer Ausstellung nach der anderen teil, in diesem Jahr waren es acht. Ulrich Frewel beweist die oft gemachte Beobachtung, dass Kreativität
jung erhält: er geht federnden Schrittes und er hat eine Stimme, die man für die eines jungen Mannes in der Blüte seiner Jahre halten könnte. Wie schon oben erwähnt, liest er pausenlos, so er
nicht in seinem zwölfhundert (!) Quadratmeter großen Garten unterwegs ist, den er ganz allein pflegt. Wenn man ihn nach seinem Geheimnis fragt, sagt er: es sei nur Fleiß. Stetiges,
geduldiges, konzentriertes Arbeiten ist der Kern aller Kreativität.
Zu diesem Schluss kommt auch Kevin Ashton, der das zurzeit sicher beste Buch zum diesem Thema geschrieben hat: Wie man ein Pferd fliegt (München: Hanser, 2016). Ashton ist ein britischer
IT-Ingenieur, der viele Patente innehat und dessen „Internet der Dinge“ sogar Eingang ins Oxford Dictionary of English gefunden hat. Seine These: Kreativität hat weniger mit Inspiration zu tun,
als mit Arbeit. Mit beharrlicher Konzentration auf eine Sache nämlich. Und der Ablehnung, Zeit für Banales zu verschwenden. Damit wirft er ein völlig neues Licht auf allen angeblichen
therapiebedürftigen Workoholism, den kleine Geister gern bei wirklich schöpferischen Menschen diagnostizieren. Auf das Thema kommen wir an geeigneter Stelle noch einmal zurück: der Mainstream
dichtet uns nämlich gern ein paar gänzlich erfundene Krankheiten an, für die er uns dann auch gleich das passende Gegenmittel verkauft. Damit schlägt er gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: denn
erstens schaltet er damit Querdenker gleich, indem er sie als „gestört“ ins Aus manövriert und zweitens verkauft er ihm noch die Therapie dazu. Wenn ich darüber nachdenke, geht mir gleich
das Messer auf im Sack! Deswegen denke ich lieber, bevor mich allzu sehr darüber aufrege, mit Fussnote 24 und 25 weiter:
24 Diese Zeitung ist übrigens ein sehr sympathisches Blatt, das einem das Gefühl vermittelt, in einer überschaubaren und im wesentlichen auch wohlgeordneten Welt zu
leben.
25 In unserem Buchcafé machen wir übrigens eine ganz ähnliche Kirsch-Tarte, die mit der Bregenzer durchaus vergleichbar ist, wenn ich das mal in aller Bescheidenheit so sagen darf. Das
Rezept dafür schicken wir Ihnen gerne - ich habe inzwischen sogar eine gänzlich zuckerfreie Version entwickelt, die nur mit Honig gesüßt wird. Schreiben Sie uns einfach, wenn Sie das Rezept
interessiert. Zurzeit bin ich ohnehin dabei, auf allgemeinen Wunsch hin all unsere Küchengeheimnisse zu sammeln und daraus ein kleines Büchlein zu machen. Mehr darüber finden Sie demnächst auf
dieser Netzseite.
26 Die Autorin dieser Zeilen hat eine nur schwer zu erklärende Vorliebe für die Geschichten, die in Zeitungsannoncen - inzwischen auch Online-Kleinanzeigen - zu stecken scheinen. Was
zum Beispiel ist von einem „Brautkleid, Größe 44, ungetragen“ zu halten? Selbst eine ganz normale Tageszeitung ist täglich voller literarischer Ideen, wenn man genau hinsieht. Was da
nicht alles gesucht und gefunden wird! Damit kann man einen ganzen verregneten Sonntagnachmittag aufs angenehmste vertrödeln.
27 Kosten der Anzeige übrigens 21,70 Euro incl. Mwst. Da sieht man mal, was man für kleines (oder auch gar kein) Geld in Bewegung bringen kann.
28 Wenn Sie sich jetzt fragen, was ich mit der halben Person vernünftigerweise meinen kann, so sei hier angefügt, dass ich mich auf einen statistischen Mittelwert beziehe,
den ein katholischer Pfarrer in meinem heimatlichen Sprengel ermittelt hat - dreieinhalb Leutchen ist im Jahresschnitt die Anzahl der Besucher seiner Morgenmessen. Inzwischen
bietet er aber eine zusätzlichen sonntäglichen Gottesdienst um elfe an, der im Gemeindehaus stattfindet - man sitzt im Kreis und hinterher gibt es etwas Nettes, Ofenwarmes zu essen, das
gemeinsam zubereitet wird. Und siehe da: plötzlich hat er seine „Kirche“ voll! Vielleicht könnten Sie so etwas in Ihrer Gemeinde auch einmal vorschlagen? Ein bisschen mehr Urchristentum
(und dafür weniger pomp and circumstance) täte uns allen gut.
29 Eher nachdenkliche Menschen, die das Weltgeschehen mit Sorge betrachten, erlauben sich inzwischen Zweifel an dem viel beschworenen, aber völlig unbewiesenen Trickle-down-Effekt
anzumelden und dabei auch gleich die Mottenkiste des Liberalismus kritisch zu inspizieren.
Glauben Sie mir, da kann eine ganze Menge weg, wenn man mal richtig hinsieht und sich genauer bekuckt, was da alles an Fadenscheinigem herumliegt. Das kann man nicht mal mehr bei der Caritas
abgeben oder irgendwie recyceln: da hilft nur noch der Reißwolf!
Angefangen hat das Elend mit dem eigentlich gut gemeinten Traktat des schottischen Philosophen Adam Smith (1723-1790). In seiner vielzitierten Schrift “Vom Wohlstand der Nationen” hat
er es mächtig mit der “ordnenden Hand” des Marktes, eines Marktes also, der angeblich alles von alleine und selbstredend aufs schönste regelt. Dieses fast schon religiös anmutende Bild ist aus
den Köpfen unserer Entscheidungs- und (vermeintlichen) Leistungsträger nie mehr rauszukriegen. Es gehört zu ältesten Annahmen des kapitalistischen Unfehlbarkeitsmythos. Denn Adam Smiths
Halluzinationen, die vielleicht nur die Folge eines zu üppigen Essens oder eines Gichtanfalls waren, erwiesen sich als hochpraktisch für die Ökonomie: sie sah sich dadurch von sämtlichen
Verpflichtungen entbunden, die ihre unüberlegten Handlungen haben könnten und zwar nicht nur im sozialen, sondern auch im ökologischen Sinne. Im Grunde genommen brauchte man sich also nur
zurückzulehnen und däumchendrehend und/ oder auch bloß nasebohrend zuzukucken, wie der Markt alles regelt, “gerechte” Preise ermittelt und hinterher auch wieder die Löcher zuschaufelt, die er in
die Erdoberfläche reißt.
Dass der Markt das eben nicht kann, weil er ´s gar nicht will, hätten die marktliberalen Kräfte eigentlich schon ein paar Jahre später, anlässlich der großen Tambora-Krise, merken können:
als im Jahr 1816 im damaligen Java der Vulkan Tambora ausbrach, fiel hier in großen Teilen Europas ein ganzer Sommer aus, es regnete und regnete so gut wie pausenlos fast vierzehn (!!!)
Monate lang (von April 1816 bis Mai 1817): die Ernten verfaulten auf den überfluteten Feldern, Hungersnöte, Cholera-Epidemien und Auswanderungswellen waren die Folge - das Elend lässt sich
kaum angemessen beschreiben. Wenn damals nicht die Landesväter das Allerschlimmste durch regulierende Maßnahmen verhindert hätten - der Markt hätte es nicht geschafft. Im Gegenteil: seine
(logische) Reaktion auf die Krise war nur eine weitere Verteuerung. Darauf und auf das Buch des Historikers Wolfgang Behringer ( Tambora - Das Jahr ohne Sommer. München: Beck-Verlag,
2015) kommen wir an anderer Stelle noch einmal zurück: für alle historisch Interessierten ist das mein zurzeit kostbarster Buchtipp, den ich Ihnen keine Sekunde länger vorenthalten
möchte.
Dass Adams Visionen von einer “ordnenden Hand” also ziemlicher Humbug waren, sollte sich gleich, stante pede sozusagen, erweisen. Was aber die Ökonomen nicht daran hinderte, dieser abstrusen
Theorie weiter anzuhängen. Wo käme man auch hin, wenn man sich von Tatsachen verwirren ließe! Man weiß also seit genau zweihundert Jahren, dass alles marktliberales Denken ein rechter Schmäh ist,
macht aber fröhlich weiter wie gehabt. Unsere Welt könnte heute ganz anders aussehen, wenn man schon damals den völlig falschen Kurs korrigiert hätte, auf dem die Ökonomie unterwegs war.
Besonders gravierende Folgen hatte die Chose bekanntlich in God´s Own Country: in den Staaten verlässt sich alles auf den obenerwähnten “Trickle-Down”-Effekt, der noch einen Schritt
weitergeht und behauptet, dass über die Wertschöpfungskette der Wohlstand sozusagen von oben nach unten fließt, so wie die Schokoladensoße auf einem Walnuss-Amaretto-Becher und dann auch
irgendwann “unten ankommt”. Was aber passiert, wenn ein paar Leutchen, die noch nicht reich genug sind, von oben schon mal das Meiste weglöffeln und die restliche Pampe dann stehenlassen? Dann
kommt, Pfeifendeckel, unten nämlich gar nichts mehr an.
Dass neoliberales Denken höchstens eine Fair-weather-Theorie ist, also nur bei schönem Wetter funktioniert, beweist auch die “Katastrophenhilfe”, die die Amerikaner ihren Landsleuten
beim Hurricane Katrina angedeihen bzw. nicht angedeihen ließen. Die ordnende Hand des Marktes sorgte damals dafür, dass überall im Süden so gut wie alle Motels und Leihwagenhändler ihre
Preise flugs um tausend bis zweitausend (!) Prozent erhöhten, auch Lebensmittel und vor allem Wasser waren, wenn überhaupt, dann nur noch zu Wucherpreisen zu haben. Eine große
amerikanische Warenhauskette, die mit wool- anfängt und mit -worth aufhört, interessiert sich seit Katrina immerhin für meteorologische Frühwarnsysteme. Aber nicht etwa, weil sie aus lauter
Nettigkeit den Betroffenen helfen will! Nein: sie will das nächste Mal mit ihren Lastwagen rechtzeitig zur Stelle sein, um so richtig Kasse zu machen.
All diese Zusammenhänge kann, wer mag, bei George Sandel nachlesen. In dem 2013 erschienenen Buch des Harvard-Professors „Was man für Geld nicht kaufen kann“ thematisiert er die grundsätzliche
Problematik eines Marktes, der alles, aber auch wirklich alles zur Ware macht: vom Genmaterial für Saatgüter, die eigentlich Allgemeingut sind, plötzlich aber einem sehr fragwürdigen
Copyright (!) unterliegen sollen, über Organhandel und Leihmutterschaften (für die es inzwischen eine ganze Industrie gibt) bis hin zum sehr zweifelhaften Kultur- und Forschungsstiftungen,
mit denen Konzerne den Bildungssektor „unterstützen“. Im Grunde sind sie nur an industrienaher Forschung und an Gefälligkeitsgutachten interessiert, mit denen sie dann ihre äußerst
zweifelhaften Produkte vermarkten können.
Wie diese Dinge zusammenhängen, weiß man hier in Europa schon länger: Christian Kreiß berichtet darüber in Gekaufte Forschung ( Europa-Verlag, 2015) - doch Vorsicht, wer das hervorragend
recherchierte Buch liest, wird leicht um den Schlaf gebracht! In den Staaten jedenfalls ist George Sandel zurzeit meines Wissens der einzige Philosoph, der dem (selbst dort)
wachsenden Gefühl des Unbehagens eine Stimme verleiht.
Dafür hat er lange Zeit Kopf und Kragen riskiert. Hätte es seine Gerechtigkeit, die zwei Jahre zuvor auf den Markt kam, nicht sofort auf sämtliche Bestsellerlisten geschafft, hätte
Professor Sandel seine Brötchen alias rolls fürderhin als Taxifahrer verdienen können. Das schreibt er zwar nirgends - aber da wir alle nicht auf den Kopf gefallen sind, können wir uns das
zusammenreimen. In den Staaten kann man für derlei Attacken auf die Grundfeste des Systems auch leicht und unbürokratisch als vermutlicher Terrorist in Gewahrsam genommen werden, wie jeder weiß,
der hin und wieder den Spiegel liest.
Machen wir uns nichts vor: Neoliberalismus ist in Verbindung mit der perfiden Ideologie, dass jeder für sich selber verantwortlich ist, nichts weiter als ein Alibi für die ganz
Reichen. Erinnern Sie sich noch daran, dass der damalige Vizepräsident Cheney, als die ersten Nachrichten über Katrina nach Washington durchdrangen, nicht einmal Grund sah, seinen
Angelurlaub zu unterbrechen? Und dass die Außenministerin Albright sich auch nicht beim Shoppen unterbrechen ließ? Sie reiste zwar dann notgedrungen an, inspizierte mit wohleinstudierter
Betroffenheitsmiene das Bild der Verwüstung, trug dabei aber Prada und ließ sich zwischendrin in der Maske, die die Fernsehteams mitgebracht hatten, die Haare toupieren, ungelogen!
Vielleicht wäre vieles anders, wenn die ordnende Hand auch mal solchen Rotzlöffeln eine schallern wurde, am besten dann, wenn sie wieder mal etwas von win-win faseln, was kein
vernünftiger Mensch mehr hören kann. Wie kriegen wir bloß diesen fiesen Fettfleck wieder aus unserer schönen Sprache? Mit win-win kommt einem inzwischen jeder Käsehändler, es ist zum
Mäusemelken! Das win-win ist des Müllers Lust, heißt´s demnächst noch! Auch das Worst-Case-Szenario ist sehr beliebt, ebenso wie der break-even-point, mit dem der eine oder andere
Sülze gepfeffert wird. Ach, wie sagt mein geschätzter Kollege immer? „Wenn´s nicht zum Heulen wäre, wär ´s zum Lachen.“
Ich jedenfalls wünsch mir nichts mehr, als dass endlich jemand all die Sand- und Heinzelmännchengeschichten, die uns die Mythenbildner des Neoliberalismus zumuten, in so etwas wie
einer Anthologie zusammenfasst, so dass auch Leute, die wenig Zeit haben, irgendwo nachlesen können, mit welch hanebüchenem Blödsinn man uns tagtäglich zum Narren hält. So ein Büchlein legen wir
dann all unsern Politikern, jedenfalls den etwas unterbelichteten, untern Christbaum, vielleicht nützt ja das etwas. Ahnen unsere unmerklich zu Neo-Liberalen umerzogenen Volksvertreter wirklich
nicht, dass unreflektiertes Investieren nur ein paar wenigen Schlaubergern Gewinne bringt? Während es gleichzeitig nachhaltig die Schöpfung schädigen, eine Gesellschaft stressen und vielleicht
sogar entzweien und überdies kommenden Generationen die Lebensgrundlage entziehen kann.
Und was, bitte, müssen wir tun, um unseren Politikern klar zu machen, dass sie nicht aus unseren Steuern finanzierte Milliardenbeträge für eine Forschung ausgeben dürfen, an der nur
Großkonzerne teilhaben? Von der aber sämtliche Umweltschutzverbände und andere Querdenker ganz bewusst ausgeschlossen werden? Wer genau darüber nachdenkt, kann leicht zum Alkoholiker
werden. Vor allem, wenn man dann auch noch über weitere liberale/ liberalistische Schlüsselwörter räsoniert. Vielleicht gießen Sie sich noch einen Baldriantee auf oder genehmigen Sie
sich ein schönes Bierchen, bevor Sie sich die nächsten zwei Fußnoten antun. Könnte sein, dass Sie es gut gebrauchen können.
30 Der Begriff Deregulierung gehört schon seit einer ganzen Weile zur Nomenklatur des Neoliberalismus. Er bezeichnet - was niemandem, der diese Zeilen liest, neu sein dürfte - den Abbau
sämtlicher Gesetze, die vor allem die Finanz- und zum Teil auch die Realwirtschaft am Gewinnmaximieren hindern könnte.
31 Dagegen hätte niemand etwas einzuwenden, wenn es nur um Zollbestimmungen oder steuerrechtliche Regeln handelte. Aber die Deregulierung setzt unter vielem anderem auch Arbeitsgesetze
außer Kraft, ebenso wie Umwelt- und Denkmalschutz-, ja sogar Lebensmittelgesetze, Hygienebestimmungen und vieles andere mehr. Und in den USA inzwischen sogar Grundrechte. Ungelogen
(!) Grundrechte (!) Neue Gesetzesentwürfe sehen nämlich vor, dass jetzt auch Konzerne etwas dürfen, was bislang nur dem Staat in Ausnahmefällen vorbehalten war: sie können enteignen.
Was das im einzelnen bedeutet, mag folgendes Gedankenexperiment illustrieren: gesetzt den nicht ganz unwahrscheinlichen Fall, der Hersteller einer koffeinhaltigen Brause käme auf die Idee, eine
seiner Fabriken beispielsweise in einer Schrebergartenanlage hochzuziehen, so könnte demnächst die Firma alle Betroffenen - unter Umgehung von viel lästigem Papierkram - enteignen. Sie
braucht nicht einmal mehr die Gerichte zu bemühen, sondern kann praktischerweise gleich die Planierraupe schicken. Das Schöne an dieser (geplanten) Neuregelung ist nämlich, dass die Konzerne auch
noch eine ganze Menge Geld sparen, denn die Abstandssummen liegen natürlich weit unter den Marktpreisen. Da sie ohnehin am längeren Hebel sitzen, ist ja schließlich auch nicht einzusehen, warum
sie einen gerechten Preis zahlen sollten. Gerechtigkeit ist eh bloß etwas für Weicheier. (“Justice is for sissies”, heißt es inzwischen denn auch in einschlägigen Kreisen - kann man sich etwas
Zynischeres denken als diesen Satz? )
Als sei das alles noch nicht schlimm genug, haben sich ein paar ganz gerissene Strategen überdies ein halbes Dutzend angeblich völkerverbindender Handelsabkommen wie TTIP &
Co.ausgedacht, damit sie auch die Europäer, denen es ohnehin zu gut geht, so richtig ausnehmen können. TTIP - das brauche ich sicher keinem meiner Leser weiter zu verdolmetschen - TTIP beschränkt
sich ja nicht darauf, den europäischen Markt mit seinen in Sagrotan marinierten Flattermännern (alias Chlorhühnchen) zu sättigen. Auch das wäre nicht weiter schlimm. Denn wenn wir die
zweifelhaften Viktualien, die sie uns andienen, nicht kaufen, werden sie irgendwann nicht mehr produziert - in dieser Hinsicht ist auf den Markt durchaus Verlass. Ich kann mir jedenfalls kaum
vorstellen, dass die Franzosen ( die schon seit Ludwig XI. ein verbrieftes Recht auf ein sonntägliches Huhn im Topf haben) sich jetzt ein neues Rezept für Chlorhühnchen au vin ausdenken. Nein,
das Problem sind nicht diese Broiler. Das Problem - damit teile ich wohl niemandem etwas Neues mit - sind die geplanten Schiedsgerichte, die dafür sorgen, dass ihre Investoren “entschädigt”
werden, sollten sie aus irgendeinem Grunde nicht zum Zuge kommen - indem eine uneinsichtige Urbevölkerung sich zum Beispiel dagegen auflehnt, eine Champignonzuchtanlage vor die Nase gesetzt zu
bekommen. Oder ein Gen-Maisfeld “für” noch größere Popkörner.
Vor allem diese Entschädigungs-Nummer ist so aberwitzig, dass anständige Menschen sich fragen, wie man auf so etwas überhaupt bloß kommen kann! Verkehrte Welt, sagt man sich: das ist in etwa so,
als gälte es jetzt als durchaus akzeptabel, seine Nachbarn auf Entschädigung zu verklagen, wenn sie etwas dagegen haben, dass man nachts um halb drei Marschmusik hört, bis der Putz von der Wand
fällt. Oder Posaune übt.
Ich persönlich könnte schon mit meiner Blockflöte alle anderen damit in den Wahnsinn treiben. Meine lieben Eltern - Gott hab sie selig - und meine sonst tendenziell freundlichen Geschwister
würden das jederzeit gerne bestätigen. Nach der Logik dieser Investorenschutzgesetze könnte ich aber, nachdem mich meine Nachbarn eventuell sogar unter Androhung von Prügel an der Ausübung meiner
Kunst gehindert haben, am nächsten Morgen zu einem dieser (übrigens nicht einmal aus Juristen bestehenden!) Schiedsgerichte gehen und eine Entschädigung in Höhe von X einfordern. Und ich
bekäme auch noch Recht! In den Betrag X hätte ich natürlich vorsorglich auch noch das zu erwartende Lebensglück mit eingerechnet, das mir meine Blockflöte beschert hätte, wenn man mir sie nicht
weggenommen hätte. Ich könnte sogar die entgangenen Tantiemen noch mit einklagen, die mir meine musikalischen Darbietungen vielleicht eines Tages eingebracht hätten, samt Zins und
Zinseszins. Aus derartigen Faktoren setzt sich nämlich der Betrag X zusammen, um die es bei diesem Entschädigungssummen geht. Eigentlich darf man gar nicht so genau darüber nachdenken. Mein
geschätzter Kollege Ulrich Frewel bekommt hin und wieder spontanes Nasenbluten, wenn er sich wieder einmal über TTIP & Co. aufregt. Zumal er weiß: TTIP ist weder der erste noch der letzte
Versuch der Global Player, die Idee der Sozialen Marktwirtschaft völlig auszuhebeln und sie durch bracchiales Konkurrenzverhalten zu ersetzen. Das nächste TTIP kommt bestimmt! Das sei schon jetzt
so sicher wie das Amen in der Kirche, sagt er. “In den Traumfabriken jenseits des Atlantiks”, berichtete er mir unlängst, “ ist man man inzwischen dabei, das nächste Trojanische Pferd
zusammenzuzimmern, mit dem sie uns beschenken wollen. Die neue Version, Troja 9.0, heißt dann vielleicht ein wenig anders, aber es ist dasselbe, nur anders verpackt. Fury wäre ganz nett , für
“frigging unrefined yuppies“ zum Beispiel. Wie sagte Laokoon einst in Vergils Aeneis? `Timeo danaos et donas ferentes.´ Ich fürchte die Danaer, auch wenn sie Geschenke bringen
(Aeneis, II,49)” Mein geschätzter Kollege liest nämlich, wie bereits eingangs erwähnt, auch sämtliche Klassiker im Original und viele davon kann er seitenweise rezitieren wie wir unsereins den
Struwwelpeter oder die Häschenschule. Er ist ein eben grundgescheites Haus und doch muss ich ihn manchmal von der Decke holen, wenn er wieder mal in die Luft gegangen ist vor lauter Empörung über
die mutwillige Zerstörung der Welt von gestern.
Denn selbst wenn wir TTIP, Ceta & Co. ( für die irritierenderweise sogar allgemein geschätzte Politiker werben) nicht kommen sollten - aus dem Schneider sind wir damit noch lange nicht!
Leider! Vor allem nicht nach dem Brexit. Jetzt wollen´s die Brüssler ganz ohne uns durchziehen.
In Brüssel sind ein paar von Lobbyisten belagerte Leutchen ohnehin schon länger dabei, klammheimlich, unter Ausschluss der Öffentlichkeit Rechte abzuschaffen, für die unsere Eltern
auf die Straße gegangen sind. Das kriegen wir hier gar nicht so mit. Ich behaupte wohlgemerkt nicht, dass unsere Europapolitiker korrupt sind, auch wenn die Spesenkonten dieser Lobbyisten (die
sich als Berater ausgeben) auf die eine oder andere Art von Vorteilsnahme schließen lassen. Inzwischen gibt es Gott sei Dank eine Reihe von Lobby-Control-Foren, die auch dringend nötig sind: in
Brüssel hängen nämlich nach Schätzungen dreimal so viele Lobbyisten von internationalen Konzernen herum, wie es dort Politiker gibt. Diese „Politiker“, das sei hier noch ergänzend
hinzugefügt, haben wir wohlgemerkt niemals direkt gewählt. Sie haben kein Programm und kein Gesicht. Nach Brüssel wurden sie aus unseren Parlamenten wohl nur entsandt, weil sie in
Paris oder in Berlin so keiner richtig lieb hat oder weil ihre Zahnhygiene zu wünschen übrig lässt. Dieser Vorgang nennt sich Wegloben: zum Trost kriegen die Burschen dann ein paar, nicht eben
knapp bemessene Pfründe, mit denen sie sich jeden Abend ein T-Bone-Steak genehmigen können - wenn Sie sich diese Fleischfressergesichter ankucken, könnten Sie das auch ganz genau sehen. Aber ach,
ich lasse mich gerade etwas hinreißen von meiner Verzweiflung über den Zustand des Globus…verzeihen Sie mir! Ich habe gestern schlecht geschlafen, weil ich sehr Beunruhigendes über die neuerliche
Bedrohung der Buchpreisbindung (durch die Brüssler) gelesen habe. Das macht mich immer ganz kirre. Denn wenn sie fällt, wird überall in Europa das Licht ausgehen.
Halten wir nur eines fest: das Europäische Parlament verfügt, wie man seit langem weiß, über ein erhebliches Demokratiedefizit. Warum ändern wir dann aber nichts an dieser Pseudodemokratie,
die gleichwohl ständig mit lebensverändernden Gesetzen daherkommt und die vor allem diese Wettbewerbsverzerrungen verhindern will? Was meinen sie eigentlich damit?
Wettbewerbsverzerrung: klingt ja eigentlich nach etwas, das man durchaus abstellen muss, damit alle eine faire Chance haben mitzumachen und das wollen wir doch eigentlich alle, oder
nicht?
Tatsache ist aber, dass das schlau gewählte Wort etwas als unfair brandmarkt, das durchaus Sinn ergibt: wenn der Staat seine schützende Hand über irgendwelche notleidenden Branchen legt
oder auch bloß neue, kreative Ideen fördert - dann ist das schon eine (angebliche) Wettbewerbsverzerrung! Denn eine direkt oder indirekt subventionierte Branche schmälert ja die Gewinne der
Investoren, die es zu schützen gilt… Die Füchse betrachten den Zaun, den der Bauer um seine Stallhasen bzw. um sein liebes Federvieh herum baut, natürlich auch als Wettbewerbsverzerrung.
Klar. Weswegen sich die Füchse jetzt auch organisiert haben und den Bauer dazu zwingen, den regulierenden Zaun gefälligst wieder abzubauen. Und wenn er nicht spurt, kommt er vors Standgericht,
pardon Schiedsgericht.
32 „Du kannst ohnehin nichts ändern“ , würde es auf Hochdeutsch heißen, aber das ist natürlich bei weitem nicht so schön wie dieser Satz.
33 Ein Satz, den man zum Beispiel ständig fotografiert hat, ist Marie von Ebner-Eschenbachs (1830- 1916) scharfsinnige Beobachtung „Der Klügere gibt nach - dieser Satz begründet die
Weltherrschaft der Dummen.“ Wir haben ein paar der wichtigsten Zitate inzwischen fotokopiert: die Papierstapel versehen wir mit einem Loch und einem Stück Bindfaden, sodass sich
jeder, der mag, nur eines abzureißen braucht. So kann er es schwarz auf weiß getrost nach Hause tragen.
34 Besagter Versender hat unlängst auch das wunderbare ZVAB, das ehrwürdige Zentralantiquariat des Buchhandels gekauft, und das ist schon eine ziemliche Katastrophe, weil keiner unserer
Kollegen weiß, woher man als anständiger Mensch jetzt die vergriffenen Bücher besorgen soll.
35 Was wir natürlich gern genehmigen! Inzwischen haben wir so etwas eine Generalvollmacht dazu gehängt, die allen erlaubt, nach Herzenslust alles zu knipsen, worauf sie Lust haben. Ein
besonders beliebtes Fotomotiv ist ein Hinweis, der im ersten Stock an der Kaffeemaschine hängt: “Falls Sie Zweifel haben sollten, Kaffee und Tee sind wirklich kostenlos! Bedienen Sie sich nach
Herzenslust! Wenn Sie eine Tasse trinken, sparen Sie also gut und gern einen Euro fünfzig. Wenn Sie zwanzig Tassen schaffen, sind´ s nach Adam Riese schon dreißig Euro, die Sie dann
gewinnbringend in Bücher investieren können. ” Mit derlei Texten bezaubert man vor allem schwäbische Herzen! Ein anständiger Schwabe nutzt derlei Aufforderungen nebenbei bemerkt nie aus,
ebenso wenig wie all seine anderen alemannischen Nachbarn. Aber er freut sich darüber, wenn sein tendenziell eher kritisches Weltbild von Menschen korrigiert werden, die sich redlich um
ihn bemühen und stets kulant bleiben. Echte Alemannen sind treu wie Gold. Und von einer Großherzigkeit, die sämtliche Vorurteile Lügen straft.
36 Es war damals die in der folgenden Fußnote näher beschriebene Sophien-Ausgabe, die dem Regal den Rest gab.
37 Prinzessin Wilhelmina Sophie Marie-Luise von Hessen-Nassau (1824-1897) war eine holländische Prinzessin, die durch die Heirat mit ihrem klugen Cousin Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach
(1818-1901) nach Weimar kam. Sophie widmete sich nicht nur Dutzenden von sozialen Aufgaben. So engagierte sie sich zum Beispiel für die Einrichtung von Mädchenschulen und die
Ausbildung von Krankenpflegerinnen. Sie war überdies von Walter von Goethe als Alleinerbin des schriftlichen Nachlasses seines Vaters eingesetzt worden und übernahm die Arbeit mit
demselben Pflichtbewusstsein wie alles andere auch. 1865 entstand auf ihre Anregung hin nicht nur die Goethe-Gesellschaft. Sie initiierte auch die erste kritische, 143 Seiten umfassende
Gesamtausgabe der veröffentlichten Werke Goethes im Böhlau-Verlag. Der München dtv Verlag brachte Ende der Neunziger Jahre ein Halbfacsimile dieser Sophien-Ausgabe heraus, die theoretisch
zwar vergriffen, praktisch aber schon noch zu haben ist. Wir Buchhändler haben da immer unsere Tricks. Mein geschätzter Kollege Ulrich Frewel kann Ihnen darüber gern Auskunft
geben.
38 Heute wacht ein anderer Engel über das Herz meiner Buchhandlung. Er stammt aus einem alten Pfarrhaus hier am See und dürfte gut und gern zweihundertfünfzig Jahre alt sein, das heißt, er hat in
seinem Leben schon so einiges gesehen. Vielleicht ist ja das der Grund dafür, dass er stets so gelassen bleibt. Mir fällt das immer noch schwer. Aber ich bin ja auch kein Engel.
39 Die Idee für einen solchen Versand kam mir übrigens unlängst, als ich mit ein paar besonders kritischen Denkern über die sogenannte Tobin- oder Börsenumsatzsteuer
diskutierte. Kluge Köpfe fragen sich schon länger, wieso selbst noch in dem “Fuchzgerl”, das man für jede verflixte Klotüre im öffentlichen Raum braucht, mindestens neunzehn Prozent Steuern
stecken, während die Börse vierundzwanzig Stunden pro Tag so gut wie steuerfrei
absahnen darf. Wer thematisiert das? Keiner!
Wahrscheinlich fürchten unsere armen Politiker, dass man ihnen den Mund mit Seife auswäscht, wenn sie das böse Wort auch nur erwähnen. Börsenumsatzsteuer, huh! Das hat fast das revolutionäre
Potential der Marsellaise!
Vielleicht sollten wir überhaupt mal die Franzosen vorschicken, um da ein wenig Dampf zu machen. Die Deutschen kriegen das nicht so leicht hin, denn ihnen fehlt bekanntlich das
Auf-die-Barrikaden-Gen.
Es hilft also alles nichts. Zurzeit sieht alles danach aus, als ob wir weiter geschröpft werden, während die global players mit ihren Sportsfreunden von uns auch noch direkt und indirekt
subventioniert werden und fröhlich weitermachen wie zuvor. Was soll ihnen auch passieren. Der Steuerzahler wird sie schon wieder raushauen, wenn sie wieder einmal in der Klemme sitzen. Allein
schon darüber könnte, wer genau darüber nachdenkt, den Glauben an die Menschheit verlieren. Weswegen man alles Nachdenken hin und wieder auch ganz sein lassen sollte.
Wo sind sie nur, die Querdenker und die Macher, die die oftmals verblüffend einfachen Lösungen vorschlagen? “Sollten wir es nicht doch mal mit faulen Eiern oder Tomaten versuchen?”,
fragte einer der Teilnehmer unserer Runde bei dieser Gelegenheit. “Das wäre durchaus eine Option, die ihre Wirkung nicht verfehlen würde”.
Ich gab daraufhin zu bedenken, dass es inzwischen gar nicht mehr so einfach ist, faule Tomaten zu besorgen, seit die Dinger einfach nicht mehr faul werden. Da kann man sich auf den Kopf stellen!
Sie sind inzwischen gentechnisch so umgemodelt, dass sie fast schon die Halbwertszeit von Uran haben. Für revolutionäre Zwecke sind sie jedenfalls nur noch eingeschränkt verwendbar und das ist
ein echtes Manko.
So kam es, dass wir aus einer Laune heraus einen Business-Plan für besagten Revolutionsbedarfsversand entwickelten. Nennen Sie es eine Schnapsidee, aber es ist eine durchaus brauchbare. Und
jeder, der sich ein wenig in Geschichte auskennt, wird Ihnen gern bestätigen, dass die besten Ideen oftmals ihre Karriere als Schnapsideen angefangen haben, vorzugsweise in feucht-fröhlicher
Runde.
Die Sache mit den Tomaten ließ mir übrigens keine Ruhe. Nach ein wenig Gegoogle kam ich denn auch darauf, dass durchaus schöne faule Tomaten erhält, wer das beliebte Nachtschattengewächs ein paar
Tage lang in einer Plastiktüte auf eine sonnige Fensterbank legt. Ich habe dann noch ein wenig weiter recherchiert und auch ein paar historische Revolutionstechniken ausgebuddelt, die sich
durchaus auch heute noch anwenden lassen. So kann man zum Beispiel auch mit gutem altem Pferdemist durchaus Eindruck machen und vielleicht sogar die gewünschten Ergebnisse erzielen. Das
Stoffwechselprodukt der lieben Tiere eignet sich nämlich durchaus nicht nur zum Düngen von Erdbeeren. Es gibt auch wunderbare, etwa dampfnudelgroße Wurfgeschosse ab. Gut abgelagerter
Pferdemist stinkt übrigens nicht, sondern duftet eher heimelig nach Stall. Wenn Sie allerdings den Anzug eines antisozialen Nadelstreifenträgers nachhaltig ruinieren wollen, brauchen Sie
schon (zicke zacke) Hühnerkacke - auch das würde ich mir, hätte ich so einen Versand, irgendwie besorgen. Für die Aktivisten würde ich überdies gefriergetrocknete Brennnesseljauche anbieten, die
braucht man bloß mit Wasser aufzugießen, woraufhin sie pestilenzialisch zu stinken anfängt. Dieses „uns stinkt´s“ kann ein echtes Statement sein, das manchem Bürgermeister durchaus zum Nachdenken
einladen würde.
Sehr gut kommen auch Fische, die man mehr oder weniger frisch verwenden kann. Sie haben außerdem den Vorzug, dass sie sich in gefrorener oder getrockneter Form geruchsneutral aufbewahren lassen.
Bei Bedarf hat man aber auch schnell mal einen leckeren Cocktail daraus gebraut. Auch macht sich ein gefrorener Fisch gut im Briefkasten eines fiesen Möpps, während der gerade auf Kosten
des Steuerzahlers in der Weltgeschichte unterwegs ist. Wenn man das richtig timet, hat er, sobald er wiederkommt, echte Freude.
Findige Köpfe kommen, wenn sie´s drauf anlegen, überhaupt auf Tausende von netten (wohlgemerkt!), aber pädagogisch durchaus wertvollen Einfällen, bei denen man gern auch etwas
rezenter duftende Käsesorten einsetzen könnte. Aber auch für Hundetütchen und deren Inhalt gibt es sehr kreative, witzige Anwendungsmöglichkeiten. Sie eignen sich bestens für das, was die
Soziologen als altruistische Bestrafung bezeichnen. Gemeint ist damit eine leicht übergriffige, aber durchaus legitime Lektion, die die Guten denen beibringen, die ´s übertreiben. Aber das
alles sei hier nur so am Rande notiert, für den Fall, dass Ihnen mal die Hutschnur platzt oder das Kragenknöpfchen.
Es gibt sehr originelle, sehr pfiffige und eigentlich harmlose Lösungen, mit denen man aber durchaus ein paar korrupten Entscheidungsträgern zeigen könnte, „was eine Harke ist“ - der Wendung
sieht man noch heute leicht an, woher sie kommt, aus der Zeit der Bauernkriege nämlich, wo man seiner Herrschaft mit improvisierten Waffen ( Dreschflegeln, Harken, Spaten etc.) mal eben
zeigte, „was eine Harke ist“. Damit kann man schon den einen oder anderen Denkprozess in Gang setzen. Man sieht also: mit einfachsten Mitteln ließe sich das Schlimmste verhindern.
Und: man hätte die Lacher auf seiner Seite. So bekämen wir einen guten Teil der Korruption in den Griff. Ich sage bloß Zicke, zacke….. Dem in einer anderen Fußnote erwähnten
Toastbrothersteller, der sein Mehl mit lindanverseuchten Sägespänen verschnitten hatte, um Kosten zu sparen (!), hat ein pfiffiger Bursche zum Beispiel einen schon richtig gut duftenden und
bereits halbflüssigen Appenzeller Käse in den Hohlraum unter seinem Chefsessel geschmuggelt. Wer diesen Käse kennt, weiß, dass man nach so einer Aktion nur noch das Haus abreißen kann. Von wegen
also: einer allein kann sowieso nichts machen. Hah! Und ob er was machen kann! Wie schade, dass man sich als kultivierter Mensch vor lauter Toleranz an viele dieser Maßnahmen nicht so recht
traut, dabei hätten wir damit die schlimmsten Auswüchse antisozialen Verhaltens gleich im Griff. Als Revolutionsbedarfsversender würde ich natürlich auch eine Broschüre mit ein paar
besonders schönen Vorschlägen anbieten. Wussten Sie übrigens, dass man in England The Top Hat Man engagieren kann? Dieser Top Hat Man trägt einen sehr auffälligen Zylinder, den
namengebenden top hat nämlich, und er macht nichts weiter, als vor der Tür eines Tricksters zu warten, der seine Handwerkerrechnungen zum Beispiel nicht bezahlt. Das wirkt wunderbar und
auch sehr schnell. Damit könnte man auch hierzulande jede Menge Arbeitsplätze schaffen! Und außerdem, davon bin ich überzeugt, würde man jede Menge Seelen retten. Denn wenn die Trickster
(um die Bezeichnung eines Jung´schen Archetyps zu verwenden) lernen, dass es anstrengender ist, sich durchs Leben zu tricksen als aufrichtig zu sein, dann könnten wir als Gesellschaft diese
Trickster vor sich selber schützen - vielleicht sind sie uns deswegen eines Tages sogar dankbar! Die Schummelei ist nämlich, wie wir bereits festgestellt haben, mit jeder Menge
miesem Karma verbunden, das tatsächlich kein leerer Wahn ist: Unehrlichkeit macht auf die Dauer krank. Das eigene Gewissen schneidet dem Korrupten vorzeitig den Lebensfaden ab. Und das
letzte Hemd hat ohnehin keine Taschen, wie der Volksmund zu berichten weiß und auch hier hat er, wie eigentlich im
mer, recht. Kennen Sie übrigens die Geschichte von dem alten Geldsack, der
in seinem Testament verfügte, mit seinem ganzen Geld begraben zu werden? Als das Thema beim Beerdigungskaffee angeschnitten wurde und man den klugen Sohn danach befragte, sagte der leichthin:
„Oh, kein Problem, ich hab dem Alten einen Scheck reingelegt.“ So muss man ´s machen: die Trickster ganz einfach austricksen. Wir sind ja auch nicht aus Dummsdorf. Wir haben in Physik
aufgepasst und in Chemie und querdenken können wir auch. Warum machen wir nicht überhaupt gleich eine Website mit den besten Ideen? www.altruistische-bestrafung.org oder so ähnlich,
könnte diese Seite doch heißen. Vielleicht holen dann ein paar Käpsele ihren alten Kosmos-Chemie-Baukasten vom Dachboden? Doch lassen wir´s damit gut sein. Diese sehr aufmüpfige Fußnote ist
ohnehin schon viel länger geworden, als sie eigentlich sein sollte: sie ist ein Vorgeschmack auf den Band zwei dieses Buches, das ca. tausend höchst praktische Ideen bietet, wie diese Welt zu
verbessern ist. Schicken Sie uns gern Ihre eigenen zu - mich würd´s freuen.
40 Obwohl ich das mit der Glasscheibe jetzt mal so hin improvisiert habe. Ich müsste das noch mal recherchieren, so mich jemand jetzt auf diese Glasscheibe festnageln
wollte.
41 Ich selber habe, was ich erforderlichenfalls gern nachweise, meine eigene Krankenversicherung in den letzten zwölf Jahren nicht einen Cent gekostet. Wenn ich einen Arzt brauche, weil ich mir
wieder mal das Kreuz verrissen habe, gehe ich zu meinem genialen Dr.Dobler in die Ludwigstrasse, der mich wieder aufrichtet. Er ist der beste Arzt, der sich nur vorstellen lässt: immer
gutgelaunt, immer empathisch - und so scharfsinnig wie Sherlock Holmes: er hat aus einer Intuition heraus noch immer den Kern der Sache getroffen. Er trödelt auch nicht in der
Apparatemedizin herum, sondern probiert´s erst mal mit Homöopathie, obwohl er alles Allopathische genauso drauf hat. Ich übernehme die Honorare gern : seit Jahren bin ich toi,
toi, toi, nicht über meinen jährlichen Selbstbehalt bei der Versicherung hinausgekommen.
42 Letzteres erklärt sich sicher dadurch, dass sie für ausgedehnte Sonnenbäder keine Zeit haben.
43 Ich hätte übrigens nichts dagegen, wenigstens einmal zu diesen Ausreißern zu gehören!
44 Das heißt: für ein Buch, das im Handel zehn Euro kostet, zahlen wir im Schnitt also etwas über sieben Euro. In so gut wie jeder anderen Branche - mit Ausnahme von Lebensmitteln vielleicht noch
- wird bei einem Wareneinsatz von ca. sieben Euro ein Verkaufswert von knapp achtzehn (!) Euro incl. Märchensteuer erzielt. Ich verrate damit kein großes Geheimnis. So ist es nun
mal.
45 Ebenso wie diese höchst praktischen Aufsteller, die inzwischen viele Verlage anbieten: bei Ars Edition zum Beispiel oder Pattloch, Coppenrath, Brunnen etc. Sie bieten für
jeden Tag ein inspirierendes Zitat mit einem schönen Bild. Wenn man sich so etwas auf den Schreibtisch stellt, kann man leicht den schlimmsten Unbilden des Alltags trotzen. Man braucht nur
über ein Zitat von Hesse zum Beispiel zu meditieren, oder besser noch eines von Busch - und schon kann uns der Stress nicht mehr allzu viel anhaben. Resiliente Menschen wissen das schon
lange. Und trotzdem fragt man sich: warum gibt es eigentlich nur diese literarischen Trostpflaster? Gibt es keine echten guten Nachrichten über gute Menschen, die Gutes tun? Da soll doch
einer!
46 Wenn ich schon die Bezeichnung Investorenschutzgesetze für diese aggressive Bande höre! Sie tut so, als gehöre sie zu einer schützenswerten Minderheit. Zu einer verfolgten
und inzwischen vom Aussterben bedrohten Art, denen die übrigen Marktteilnehmer ständig ans Leder wollen. Marktteilnehmer - das ist übrigens auch so ein Wort. Mein Gott! In den
Geistesprodukten mehr oder weniger studierter Ökonomen hat es inzwischen den vormals gebräuchlichen Bürger zu ersetzen begonnen. Seit der Markt jeden, aber auch wirklich jeden Lebensbereich
durchdringt ( selbst diejenigen, in denen er absolut nichts zu suchen hat), werden wir nur noch in unserer Rolle als Käufer und Verkäufer von Waren und Dienstleistungen gesehen. Der mit dem
Marktteilnehmer verwandte Konsument ( Cousin ersten Grades) ist ein wenig auf dem Rückzug, weil er von Wachstumskritikern zu Recht Dresche gekriegt hat. Deswegen wird er in politischem
Kontext inzwischen gemieden. Der Marktteilnehmer ist hingegen auch in erlesener Runde salonfähig, in Expertenrunden vor allem. Damit entfällt endlich mal das ewige, politisch ach so
korrekte Rumgeeier mit Bürgern und Menschen ( „Die Menschen in unserem Land“). Auch das Volk kommt jetzt nur noch in Volkskornbrot vor, wo es aber auch ganz gut aufgehoben ist. Damit
wäre sogar der sperrige Migrationshintergrund, der vor allem Trägern älterer Zahnprothesen Probleme gemacht hat, auch endlich vom Tisch. Wir wollten mehr Gerechtigkeit - jetzt haben wir
sie! Jetzt sind wir alle (von der Wiege bis zur Bahre) nur noch Marktteilnehmer! Vom Kindergartenkind bis zum Altersheimbewohner. Die einzige Ausnahme bleiben allerdings die Knastologen, obwohl
den Burschen, die sich all die schönen neuen Wörter ausdenken, da sicher auch noch etwas Passendes einfällt. Alle PC (Abkürzung für Political Correctness) ist hier allerdings eine echte
Herausforderung. Wie soll man die schweren Jungs ( und gerechterweise auch Mädels ) in offiziellen Verlautbarungen oder auch in den Knastzeitungen anreden? Liebe Verbrecherinnen und
Verbrecher? Einbrecherinnen und Einbrecher? Oder doch eher: Liebe Knastbrüder und - schwestern im Geiste? Das ist, wie man sieht, gar nicht so einfach und auch für einen
gelernten Linguisten nicht eben leicht. Er weiß, dass die öffentliche Meinung (oder besser gesagt die veröffentlichte Meinung) mit relativ einfachen sprachlichen Mitteln in genau die
Richtung gesteuert wird, die man will. Wer die Macht über die Worte hat, hat die Macht über uns.
47 ….und die - unter uns - die ganze Drecksarbeit machen! Mir tun unsere Volksvertreter wirklich leid. Solange sie eine marktgerechte Demokratie anstreben, statt eines
demokratiegerechten Marktes wird sich daran auch nichts ändern.
48 Eine Kollegin, die einst über Leibniz promoviert hat, berichtete mir von einem ziemlich unterirdischen Rendezvous mit einer Internetbekanntschaft: der smarte Banker, der sie
angeschrieben hatte, hielt Leibniz ganz offensichtlich für einen Butterkeks und dozierte daraufhin eine geschlagene Stunde über die „Philosophie“ dieser Traditionsfirma, in der er
zufällig einmal gearbeitet hatte. „Nur echt mit zweiundfünfzig Zähnen!“ prostete er schließlich grinsend und Annette wusste: sie ist wieder mal im falschen Film. Nach fast fünfzig blind
dates - über die sie die haarsträubendsten Geschichten zu erzählen weiß - hat sie die Suche unlängst entnervt aufgegeben. Doch inzwischen ist sie - ganz analog - bei uns im Kaffeehaus einem Mann
begegnet, mit dem sie gerade auf Wolke sieben unterwegs ist.
49 Der „Erfinder“ der modernen Marktwirtschaft, der bereits obenerwähnte schottische Ökonom und Moralphilosoph Adam Smith trat 1776 mit seinen Hauptwerk „An Inquiry into the
Nature and Causes of the Wealth of Nations - kurz auch vom „Wohlstand der Nationen“ hervor. Damals gehörte die Nationalökonomie noch zur Philosophie. Erst während des zweiten
Weltkriegs bastelte man sich einen wissenschaftlichen Überbau dazu, wahrscheinlich weil aus sich aus komplizierten Formeln, die kein Mensch versteht, immer eine subtile Form von Autorität
ableiten lässt. Auch die Soziologie - einst ebenso eine Geisteswissenschaft wie die Ökonomie - entwickelte ihr Herrschaftswissen nach einem ganz ähnlichen Strickmuster - und
erfand ( u.a.) die Soziobiologie. Der Ober-Soziobiologe ist übrigens Richard Dawkins, ein fanatischer Atheist, dem ich persönlich lieber nicht im Dunkeln begegnen möchte. Huh.
Seinen misslaunigen wissenschaftlichen „Beweis“ , dass es Gott nicht gibt, stellt man als Buchhändler besser in die Gruselecke. Schreiberlinge wie Dawkins sind, ganz ehrlich, ein Grund mehr, um
in die Kirche zu gehen.
50 Da wir schon bei Religion sind - finden Sie nicht auch, dass die in Politik und Wirtschaft weitverbreitete naive Marktgläubigkeit zuweilen ziemlich abstruse Formen annimmt? So
beobachtet man allerorten die Befindlichkeit des Marktes, der heute „nervös“ ist, morgen aber schon wieder jovial auf seine Kinder herablächelt, wenn wir alles richtig machen. Die
Parallelen zum vielzitierten Tanz ums Goldene Kalb dürften selbst Zeitgenossen auffallen, die es sonst nicht (oder nicht mehr) mit der Bibel haben.
Das Goldene Kalb passt übrigens schon allein deswegen ziemlich gut hierher, weil es sprachgeschichtlich gesehen tatsächlich mit dem Markt ( sprich: der Börse) zusammenhängt. Wie das,
werden Sie sich jetzt fragen, doch das ist schnell erklärt: die niederländische, zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts in Brügge residierende Kaufmannsfamilie Beurse alias Burse pflegte in
ihrem Hause regelmäßige Zusammenkünfte abzuhalten, bei denen man bereits damals die Welt unter sich aufteilte - daraus wurden dann in fast allen europäischen Ländern besagte Börsen. Das Wappen
der Familie Beurse zeigte übrigens drei Geldsäcke, die eigentlich alle hätten warnen können, zumal die Börse mit dem fast gleichlautenden altgriechischen Wort für Fell oder abgezogene Tierhaut
verwandt ist, aus der unsere indoeuropäischen Vorfahren nicht nur ihre „Buxen“, sondern eben auch ihre Börsen machten (vgl.*bhuk = Bock, männliches Tier). Womit wir wieder bei den
Rindviechern wären, denen man dafür zuvor das Fell abziehen muss….Wen wundert´s, dass auf keiner Art von Börse je Segen gelegen hat. Die kann sich eigentlich nur der Teufel ausgedacht haben
oder irgendein anderer Fleischfresser. Im Himmel gibt´s bloß Manna.
51 Diese „unsichtbare Hand“ - wir hatten das Thema bereits - ist auch so ein Mythos. Sie geht auf den bereits mehrfach zitierten Adam Smith zurück und gehört zum Credo marktliberalen
Denkens. Angeblich ist sie hocheffizient. Und das mag in Bezug auf öffentliche Toilettenanlagen vielleicht stimmen. Denn seit sie nicht mehr von der Öffentlichen Hand geschrubbt werden,
sondern von der unsichtbaren, segenspendenden Hand des göttlichen Marktes, sind die Klos in diesem schönen Land wirklich etwas sauberer geworden. Und sie riechen auch besser, seit da einer alle
naslang mit einer Sprühdose febreze rumrennt wie meine Brüder einst, in seligen Ministrantenzeiten, mit dem Weihwasserkessel. An diese Klos will ich also gar nicht tippen. Obwohl ich
über die unsäglichen Schranken, die schon manchen an den Rand des Nervenzusammenbruchs getrieben haben, hier schon noch so einiges hinimprovisieren könnte!
Was ich jedoch zu bedenken geben möchte, ist: besagte unsichtbare Hand macht nichts für Gottes Lohn. Und ein Staat, der selbst seine Grundversorgungspflichten abgibt, indem er alles
„outsourct“, was sich angeblich nicht rechnet, sollte sich nicht wundern, wenn wir seine Steuersubjekte sich eines Tages fragen, weswegen wir dann überhaupt noch Steuern zahlen sollen, wenn wir
sowieso alles selber zahlen müssen - vom „Fuchzgerl“ für die verflixte Klotür bis zum Eintrittsgeld für Nordseedünen, vom öffentlichen Nahverkehr bis hin zum Winterdienst, auf den er, wie sich
gerade abzeichnet, jetzt überall pfeift. Die rapide angestiegene Zahl von Knochen- (und hier vor allem Oberschenkelhals-) brüchen nimmt er billigend in Kauf. Rein rechnerisch gesehen trägt ein
Bruch (mit seinen Folgekosten) ja auch wieder zum Bruttosozialprodukt bei (ungelogen!). Und eine Erhöhung dieses unseligen Bruttosozialprodukts ist alles, was unsere Volksvertreter und
Vertreterinnen zu interessieren scheint, was mich zu der freilich etwas aufmüpfigen Überlegung veranlasst, warum wir von jedem, der in die Politik geht, nicht solide, von wirklich unabhängigen
Denkern vermittelte ökonomische und staatsphilosophische Kenntnisse verlangen. Statt dieses Halbwissens, das man offensichtlich für ausreichend erachtet.
52 darin ist das lateinische mobile vulgus, für die „wankelmütige Masse“ (vergl.auch engl.mob) gerade noch erkennbar.
53 Ich würde Sie übrigens auch nie anlügen!
54 Die wunderbaren Details aus dem Leben und Ableben des alten Bentham habe ich übrigens aus einen ziemlich genialen Buch: Philipp Roscoe´s Rechnet sich das? (München: Hanser
2014), in dem der Autor seine Leser mit sehr pikanten Informationen aus der nicht eben ruhmreichen Geschichte des Neoliberalismus überrascht. Es gibt da auch noch ein paar andere
Architekten dieses seltsamen Gedankengebäudes, die Chicago Boys zum Beispiel, die mit südamerikanischen Militärjuntas unter einer Decke steckten - um ein Spielfeld für ihre wirtschaftspolitischen
Ideen zu bekommen. Dass damals immer mehr Oppositionelle spurlos verschwanden, schien sie nicht sonderlich zu stören: so etwas wird ja gern unter Kollateralschäden verbucht… Über die
geistigen Väter des Neoliberalismus kann man also durchaus geteilter Meinung sein. Helden waren es jedenfalls nicht, ganz im Gegenteil. Wenn wir heute ihre Ideen immer noch praktisch unverändert
umsetzen, ist das in etwa so, als würden wir den menschenverachtenden Ein- und Ausfällen eines Josef Stalin zum Beispiel immer noch gesellschaftspolitischen Einfluss gewähren. Darüber würde
keiner auch nur nachdenken. Die Chicago Boys aber bestimmen nach wie vor unser aller Leben - und die inzwischen fast unerträgliche Stress-Menge, unter der wir zu leiden haben.
55 Ich denke mir diese Informationen übrigens nicht aus oder improvisiere sie nur so dahin. Es gibt inzwischen - Gott sei Dank - sehr viele engagierte Autoren, die uns darüber in
Kenntnis setzen, was wirklich hinter den Kulissen abläuft. Die beeindruckendste Neuerscheinung zu diesem Thema dürfte zweifellos das bereits im Zusammenhang mit Sven S. erwähnte Buch von
Colin Crouch sein: Die Bezifferte Welt, die im Sommer 2015 bei Suhrkamp erschien. Im Vergleich zu der britischen Realität, die der Autor sehr eindrücklich beschreibt, geht´s uns hier ja
noch Gold! Und doch zeigt das Buch, was uns hier auch bald blühen wird, wenn wir die Neoliberalen nicht langsam in ihre Schranken weisen. In Großbritannien ist der Abbau des Sozialstaates
bereits weitaus stärker fortgeschritten als hierzulande, but we are gettin ´there too: wir sind auch auf dem schönsten Wege dahin. Angeblich können wir uns diesen Sozialstaat ja nicht mehr
leisten - weswegen sich jetzt alles auf dem freien Markt versichern soll. In wessen Interesse diese Maßnahme liegt, ist also in etwa so klar wie Kloßbrühe. Einst, zu Zeiten unseres genialen
Kanzlers Helmut Schmidt, hatten wir ein ziemlich perfektes Krankenversicherungs- und Rentensystem und plötzlich sollen wir alle selber sehen, wo wir bleiben und schön windige Anlageprodukte
kaufen, die dann in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen alle den Bach runtergehen: das ist das, was man in Bankerkreisen unter “Umverteilung” versteht. Das ist soweit nichts Neues. Wer
nicht nur liest, was in der Zeitung steht, sondern auch ein Gespür hat für das, was zwischen den Zeilen steht, weiß schon lange um diese Zusammenhänge. Er weiß auch, was er von TTIP zu
halten hat. Mit der Ratifizierung des Abkommens wird unter vielen angeblichen Handelshemmnissen auch die Buchpreisbindung fallen, das ist schon jetzt ziemlich sicher, auch wenn ein
paar kluge Köpfe in den Kultusministerien darum bitten, dass zum Erhalt der einzigartigen kulturellen Vielfalt in Europa alle Printmedien vom TTIP ausgenommen werden sollten. Nur frage ich
mich: Warum in drei Teufels Namen bitten wir eigentlich um etwas, das wir diesen Erpressern glattweg abschlagen sollten? Wir, das Volk, sind der Souverän! Und Schluss! Keine weitere
Diskussion. Diese Fritzen sind wie Hunde und Kinder, sie gehen genau so weit, wie wir sie lassen. Was passieren wird, wenn die Buchpreisbindung fällt, mag ich mir gar nicht ausmalen. Ich
fürchte, dann werfe sogar ich das Handtuch! Denn dann gibt´s bald nur noch Schwarten zu kaufen, Softpornos und vielleicht noch etwas Esoterik für die eher seelenvolle
Kundschaft, alles natürlich gedruckt auf hässlichstem, Depressionen auslösendem Papier, an dem man sich auch leicht einen Splitter in die Hand ziehen kann. Und vielleicht sogar noch eine
Blutvergiftung holen! Nicht auszudenken! Aber apropos Blut: Bücher wie diese, die mit Herzblut geschrieben sind, gibt´s dann nur noch antiquarisch. Gott, wollen wir das
wirklich?
56 Der Chef des besagten Bankhauses machte im Krisenjahr 2008 mit einer auch stilistisch beeindruckenden rhetorischen Glanzleistung von sich reden, indem er in einem Interview
behauptete: „Die Börse ist wie eine Lawine, mal geht sie rauf, mal geht sie runter.“ Fußballer haben nach verlorenen Spielen ganz ähnliche Sätze drauf: “Zuerst haben wir kein Glück gehabt.
Und dann kam auch noch das Pech hinzu.“ Wohl wahr.
57 Der Wahrheitsgehalt meiner Geschichten ist zuweilen also nicht allzu hoch zu veranschlagen, aber direkt gelogen sind sie nun auch wieder nicht! Sie enthalten stets einen
wahren Kern. Sie haben eher etwas von einem Push-up-BH, der ja auch nicht unbedingt auf Tatsachen beruht, der aber das, was man hat, aufs schönste darstellt.
58 Klar, dass ich in diesem Buch die meisten Namen geändert und die Informationen so anonymisiert habe, dass auf niemanden ein schlechtes Licht fällt.
59 Parsnip ist übrigens die englische Bezeichnung für Pastinake, an eines dieser ähnlich lautenden Foren, in denen man sich seinen Partner runterladen kann, habe ich dabei ganz
ehrlich nicht gedacht, jedenfalls nicht so direkt, obwohl es da ja das eine oder andere zu vermelden gäbe. Für die Algorithmen, die diesen Handel mit der „Ware Liebe“ erst möglich gemacht
haben, hat nebenbei bemerkt der Spieltheoretiker Lloyd Shapley vor nicht allzu langer Zeit den Wirtschaftsnobelpreis bekommen, was ihm Tausende von Hochstaplern und Herzensbrechern, die
sich jetzt im Netz tummeln, sicher danken werden. Bitte verwechseln Sie also nicht meine unschuldigen parsnip-Pastinaken mit diesen Webseiten, die für sehr viel Leid, in Ausnahmefällen
vielleicht auch ein wenig Glück gesorgt haben. Die Parsnips erwähnte ich aus rein linguistischen Gründen. Sie gehören nämlich zu den Wörtern, die jeder, der auch nur Agatha
Christie oder P.G.Wodehouse im Original liest, irgendwann nachschlagen muss, ebenso wie drei bis fünf Ausdrücke, die man in der Schule nie lernt, die aber unter Garantie in jedem englischen
Roman vorkommen: a) mantelpiece, b) scullery maid, c) groom, d) saucer, e) orchard und f) conservatory a)Kaminverkleidung, b) Küchenmädchen c) Stallbursche, aber auch Bräutigam(?!) d)
Untertasse (!) e) Obstgarten und f) Wintergarten, hätten Sie´s gedacht? Warum es keinen englischen Roman gibt, in dem diese Wörter nicht vorkommen, darüber zerbreche mir schon seit
Jahren den Kopf. Ich lasse es Sie wissen, wenn ich mir eine schlüssige Begründung dafür zurechtgelegt habe.
60 Das hat man immer sehr schön bei Lady Thatcher beobachten können. Der Lady mit der Betonfrisur haben wir ohnehin einen nicht unbeträchtlichen Teil des ganzen
Schlamassels zu verdanken. Dafür hat die Queen sie dann auch noch geadelt. Aber welchen Durchblick soll man auch haben, wenn man den ganzen Tag über in einem Palast sitzt und fernsieht?
Denn etwas anderes bleibt ihrer königlichen Hoheit, wie man hört, nicht übrig. Hat eben jeder sein Päckchen zu tragen.
Allein die Hüte, die die arme Queen immer aufsetzen muss! Diese Vogelnester, my goodness, die eher so aussehen, als gehörte sie in ein naturkundliches Museum, Abteilung Vorgeschichte. Da
ist die eigentlich ganz sympathische Lizzy nun gleich nach Frau Rowling die zweitreichste Frau der Welt, kann sich aber trotzdem die Deckel nicht aussuchen, mit denen sie dann in der Menge baden
muss. Unlängst hatte sie ein Modell auf in einem unbeschreiblichen fluoreszierenden Grün, das man eher mit Marsbewohnern assoziiert, denn mit einem anständigen Royal. Bei dem Anblick
sollen Kinder denn auch spontan in Tränen ausgebrochen sein. Ein amerikanischer Präsidentschaftskandidat löst mit seiner todschicken Windstoßfrisur übrigens gerade ganz ähnliche Reaktionen
aus, wie man hört. Irgendwie erinnert er mich an Murschetz´Maulwurf, „der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat….“
61 Im Unterschied zum Rauhhaardackel, der seit der Rächtschreiprephorm nur noch Rauhaardackel geschrieben wird, durften der Rohgewinn ebenso wie die Rohkost und der Rohling ihr h
behalten. Was ich nicht nur unlogisch, sondern auch sehr ungerecht finde, sackzement! Seither leidet der arme Rauhaardackel unter h-Ausfall, während die h-Mähne des Rohlings ungeschoren blieb.
Vielleicht sind deswegen allenthalben so viel Rohlinge unterwegs, wer weiß. Ganz schlau haben es aber die Rauhnächte gemacht und die Geschichte gibt wirklich zu Hoffnung Anlass, weswegen ich hier
schnell darüber berichten will. Laut Rephorm sollten die Rauhnächte nämlich ihr h abgeben, die man ihnen ersatzlos gestrichen hatte. Fürderhin sollten sie sich Raunächte nennen, ohne
ihr Engels-h, aber sie dachten gar nicht daran! So haben sie sich zusammengetan und den Aufstand geprobt. Und siehe da - es geht! Fast zwei Jahrzehnte nach dieser unseligen und
völlig überflüssigen ABM-Maßnahme für arbeitslose Germanisten stehen auf den Buchtiteln zu dem Thema wieder die Rauhnächte - und keiner wagt, etwas dagegen zu tun, mit Ausnahme der
Rechtschreibprogramme, die der schreibenden Zunft immer wieder dazwischenfunken. Aber inzwischen weiß man ja, wie man sie austrickst. Die Rauhnächte beweisen jedenfalls: es lohnt sich
durchaus, hin und wieder auf die Obrigkeit zu pfeifen. Weswegen sich hier jeder von den Rauhnächten mit h eine Scheibe abschneiden kann, wenn er mag.
62 Unlängst habe ich uns eine Neuübersetzung von Fritz Reuters Ut mine Stromtid besorgt, achthundert Seiten Dünndruck. Klar, dass das nicht gerade der Verkaufsschlager wird hier am See, wo
es nicht mal ein ordentliches Pumpernickel gibt, von anständigen Matjes ganz zu schweigen, weswegen ich auch manchmal ganz graugesichtig und elend aussehe. Denn ich bin hier als
Norddeutsche mit Migrationshintergrund sozusagen nur geduldet. Immerhin gibt es zuweilen Rode Grütt, Rote Grütze nämlich, ohne die kein Norddeutscher im Ausland lange überleben kann. Die
brauchen wir ebenso wie die Schwaben ihre Spätzle, die Wiener ihre Wiener Schnitzel, die Briten ihren Tee und die Koalabären ihre Eukalyptusblätter. Auch komme ich ohne meine tägliche Portion
Honigkuchen nicht aus, sonst kann ich nicht mehr richtig denken. Das ist auch so etwas, wo einen hierzulande nur alles dumpf ansieht, so man ein diesbezügliches Begehren äußert. Gott sei Dank
habe ich einen Bruder in Jever und einen anderen in Leer, die mich abwechselnd mit Care-Paketen versorgen, sonst hätte ich schon vor Jahren Antrag auf Repatriierung stellen müssen.
63 Andere Leute zahlen für ein Stückchen Blutwurst an einer Himbeervinaigrette eine Schweinegeld, das ja auch nicht ganz zufällig so heißt.
64 Dieser entzückende Menüvorschlag stammt übriges, wie sollte es anders sein, aus der Feder Victor von Bülows, besser bekannt als Loriot.
65 Ich übertreibe natürlich, wie so oft. Klar! Die Nummer mit den Käserinden habe ich jetzt ein wenig hinimprovisiert. Und doch: Mit den im Buchhandel üblichen Spannen kann man über einen
Traumurlaub in der Karibik, geschweige denn auf Fehmarn nicht einmal nachdenken. Bei mir reicht´s seit vielen Jahren bloß für ein paar Tagesausflüge auf die Mainau und maximal
vierzehn Tage Jahresurlaub im Bayrischen Wald, einer Weltgegend also, die sich durch die weitgehende Abwesenheit steppender Bären auszeichnet. Deswegen gehört sie auch nicht unbedingt
zu den bevorzugten Reisezielen von Teenagern. Dafür ist der Bayrische Wald aber herrlich ruhig und vor allem ältere Semester werden die einschläfernde Wirkung kluckernder Regenrinnen sehr zu
schätzen wissen. Außerdem befreien einen die allabendlich bereits gegen achtzehn Uhr hochgeklappten Bürgersteige von der Verpflichtung, jetzt unbedingt abends noch irgendwo hingehen zu
müssen und sich zu amüsieren, weswegen vor allem Büchermenschen sich hier auf ungestörte, mußevolle Lesestunden freuen dürfen. Hinzukommt, dass man im Bayrischen Wald noch einen Kaffee für
einsfünfzig bekommt und die Kugel Eis für weniger als einen Euro, denn hier ist irgendwie die Zeit stehengeblieben. Daher möchte ich jedem, der noch auf der Suche nach ein wenig heiler Welt
ist, den ganzen Wald auch sehr ans Herz legen.
66 seit Maria Gräfin Maltzan ihre Biographie unter diesem Titel herausbrachte, das heißt, lassen Sie mich mal eben kucken, seit 1988.
67 Zu diesem überraschenden Ergebnis ist der geniale Dan Ariely mit seinen Forschungsteams gekommen. Die Bücher dazu gibt es bei Droemer-Knaur und bei Goldmann und sie sind alle
fabelhaft! Ariely berichtet unter vielem anderen über Forschungsergebnisse, die eindeutig beweisen, dass Menschen, die sich freiwillig und unentgeltlich zum Wohle einer Gemeinschaft
engagieren, in dem Augenblick damit aufhören, da sie dafür Geld angeboten bekommen. Das heißt, man weiß genau, dass die motivationstheoretischen Lehrbücher der Wirtschaftswissenschaftler
auf völlig falschen Annahmen beruhen. Aber glauben Sie ja nicht, dass die jetzt umgeschrieben werden! Nein, man macht fröhlich weiter wie gehabt und trichtert jedem Erstsemester in jedem
wirtschaftswissenschaftlichen Studiengang auch weiterhin ein: sämtliche Marktteilnehmer sind durch Egoismus charakterisiert, was man mit nicht-kooperativen Spielen der Spieltheorie denn auch
gleich einübt. Dass wir in erster Linie sozial denkende Wesen sind, dann aber gleichgeschaltet werden, weigert man sich höherenorts zur Kenntnis zu nehmen. Soziales Handeln gilt in
den Wirtschaftswissenschaften folgerichtig denn auch als irrational. Und irrationales ( sprich = soziales Denken ) gilt es natürlich zu vermeiden! Darüber sind sich auf den Teppichetagen alle
einig, sonst kommt das ganze System durcheinander. Arielys Buch Denken hilft zwar, nützt aber nichts. Warum wir immer wieder unvernünftige Entscheidungen treffen ( München:Droemer, 2015)
ist ein Schritt in die richtige Richtung. Obwohl der (deutsche) Titel ein wenig irreführend ist - Ariely bricht hier eine Lanze für dieses vermeintlich irrationale Verhalten. Er gehört auch zu
denen, die kritisch die bereits oben erwähnte Lügentheorie des Mainstream untersuchen: in Unerklärlich ehrlich. Warum wir weniger lügen, als wir eigentlich könnten (ebenso
München:Droemer,2015) weist er mit einer Reihe von sehr pfiffigen Experimenten nach, dass sie völliger Humbug ist. Das Beste an den verhaltensökonomischen Studien ist übrigens, dass sie von der
Industrie bezahlt werden. Die Industrie nimmt sie aber nicht zur Kenntnis. Ob sie´s nicht kann oder bloß nicht will, darüber müsste man noch einmal meditieren. Ich neige sehr zu der
Annahme, dass sie es mangels (Hirn-)Masse nicht auf die Reihe kriegt. Wie dem auch sei: Tatsache ist jedenfalls, dass sie völlig falsch liegt. Und täglich völlig falsche Entscheidungen trifft.
Ich überlege Tag und Nacht, wie wir den Burschen das endlich mal stecken können. Haben Sie eine Idee?
68 Vielleicht interessiert es Sie zu wissen, dass man im amerikanischen Patientenakten bereits jetzt zu erwartende Folgeerkrankungen mit Kennzahlen versieht, damit sich besser
rechnen lässt.
Der Tod liegt bei Null, was irgendwie noch nachvollziehbar ist. Aber es gibt (halten Sie sich fest!) noch -1, in Worten minus eins! Sogar minus zwei. Minus eins bedeutet „schlimmer als
tot“, womit nur schwer erträgliche Schmerzen ohne Hoffnung auf Besserung gemeint sind.
Wenn Sie jetzt ein gewisses Unbehagen verspüren, so lassen Sie sich sagen: Ihr Gefühl trügt Sie nicht. Doch warten Sie, es kommt noch viel, viel schlimmer. Auch Depressionen werden mit
minus eins angesetzt (!!!). Sobald man also vom all-american Keep Smiling die Nase voll hat und etwas melancholisch wird, darf man in God´s Own Country inzwischen nicht mehr damit rechnen,
etwas anders als Placebos zu bekommen. Und das ist eine Nachricht, die schon sehr zu denken gibt. Ich verdanke auch diese Hinweise Adam Grants ziemlich genialem Buch Geben und Nehmen (
München: Droemer -Verlag, 2014).
69 Ist eine marktkonforme Demokratie nicht ein Widerspruch in sich? Ein Unding (alias Oxymoron, contradictio in adiecto) wie ein schwarzer Schimmel oder ein ehrlicher Anlageberater?
70 um wiederum einen Begriff von Nassim N.Taleb geprägten Begriff zu benutzen: in seinem Buch Der schwarze Schwan. Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse ( Knaus Albrecht,
2015) ist darüber mehr zu erfahren.
71 Inzwischen gibt es Gott sei Dank eine Reihe von Lobby-Control-Foren, die auch dringend nötig sind: in Brüssel hängen - wir erwähnten es bereits - nach Schätzungen zwei- bis dreimal
so viele von internationalen Konzernen entsandte Lobbyisten herum, wie es dort Politiker gibt, weswegen ein paar Querdenker inzwischen auch schon von Lobbykratie sprechen (bzw. auch von
Kleptokratie, die ich für eine besonders gelungene Wortschöpfung halte).
Dass das Europäische Parlament über ein erhebliches Demokratiedefizit verfügt, weiß man ja seit langem. Aber das ist natürlich kein Grund, etwas an dieser Pseudodemokratie zu ändern, die
gleichwohl ständig mit lebensverändernden Gesetzen daherkommt.
Erinnern Sie sich daran, dass aus Brüssel je irgendeine Novelle gekommen wäre, die einen sozialen Mehrwert für uns bedeutet hätte? Ganz im Gegenteil! Die Brüssler sind gut, wenn ´s ums Zerstören
geht. So subventioniert man nicht nur das Abholzen von ganzen Apfelbaumalleen, die ungenormte Früchte tragen, denn alles Ungenormte ist ohnehin tendenziell subversiv. Deswegen haben die
Brüssler auch, das ist noch gar nicht so lange her, den Franzosen ihre einzigartige Käsevielfalt nehmen wollen. Sie waren drauf und dran, nur noch ein paar Sorten übrig zu lassen und alle
anderen aus hygienischen Gründen zu verbieten. Aber da kennen diese Verwalterseelen halt die Franzosen schlecht! Die haben ihnen was gepfiffen und auch den einen oder anderen vergammelten Käse in
Form von handlichen Wurfgeschossen zum Einsatz gebracht und siehe da - heute kräht kein Hahn mehr nach der Gesetzesvorlage! Es geht also doch! Allegro con Brie!
Aus angeblich hygienischen Gründen versuchen die Brüssler übrigens auch die Kuchen zu verbieten, die bei gemeinwohlorientierten Veranstaltungen seit Jahr und Tag angeboten werden und deren
Erlös dabei hilft, die gute Sache zu finanzieren. Keine Kirchweih, kein Adventsbasar ist ohne die unermüdlichen Küchenfeen denkbar, die die wunderbarsten Buffets herzaubern, aber die haben die
Normierer gerade jetzt auf dem Kieker. Vielleicht könnten wir mal extra ein paar Torten backen, eine entsprechende Zahl von Reisebussen mieten und einen fröhlichen Ausflug nach Brüssel
unternehmen, wo wir die Jungs ordentlich mit ein paar Torten einseifen? Das hätte doch was! Die Idee ist, wenn ich´s recht bedenke, sogar so gut, dass man die Zutaten dafür in den
obenerwähnten Revolutionsbedarfsversand aufnehmen könnte. So könnte man zum Beispiel das vollsynthetische Buttercremepulver, das kein Mensch braucht, einer sinnvollen Verwendung zuführen. Das
Ganze filmt man dann und stellt´s bei youtube rein. Von wegen, wir können nichts ändern! Wir brauchen bloß damit aufzuhören, uns alles gefallen zu lassen! Die Achtundsechziger haben´s auch
so gemacht.
71 wie man hier in Bayern sagt, wo man nicht fluchen darf und deswegen das heilige Sakrament kurzerhand in Sackzement verwandelte. In weniger schlimmen Fällen heißt es sackelzement, oder
auch zefix!, dessen kirchliche Herkunft noch deutlicher ist. All diese Begriffe sind durchaus salonfähig, sogar Pfarrer benutzen sie. Und hin und wieder tut so etwas auch gut. Die
feinsinnigen Menschen, denen dieses Buch gewidmet ist, mögen das vielleicht etwas anders sehen, aber zuweilen helfen uns die reichen Schätze unserer wunderbaren teutschen Frau
Muttersprache, um die Dinge beim richtigen Namen zu nennen. So hat´s Luther auch gemacht. Und sein Buch ist immer noch lieferbar.
72 Diese schöne Formulierung ist etwas über zwei Jahrtausende alt. Sie stammt von Epikur (341-270 v.Chr.), der die Kunst, ganz einfache und scheinbar paradoxe Fragen zu stellen, meisterlich
beherrschte. Manchmal hilft es, ganz einfach die Prämissen zu bezweifeln. Jeder, der schon mal eine Gartenlaube gebaut hat, weiß, dass „das Fundament die Basis einer jeden Grundlage ist“.
Und wenn das nicht passt, kann aus dem Rest nichts werden, wenn unsere Größen in Politik und Wirtschaft uns immer wieder mit dem Bruttosozialprodukt als Maß aller Dinge kommen, dann müssten mal
ein paar Statiker ran, unabhängige Wissenschaftler, die sich die Sache genau bekucken.
Hier ist vor allem der vietnamesische Wirtschaftswissenschaftler Ha-Joon Chang - der zurzeit in Oxford lehrt, zu empfehlen: seine 23 Things They Don´t Tell You About Capitalism gehören zu
den Büchern, die sich man sich unters Kopfkissen legen könnte, wenn da nicht schon so viele andere lägen. Sehr empfohlen sei auch Günter Wierich: Das kritische Finanzlexikon. München:
Westend 2013, das seit kurzem vergriffen ist, aber man bekommt es schon noch.
Es ist absolut genial.
73 Wenn es eine Formulierung gibt, die den Linguisten in mir bis zur Weißglut reizt, dann ist es dieses unerträgliche „Abholen, wo man steht“, in dem sich die Arroganz einer völlig
abgehobenen ökonomischen bzw. politischen Kaste spiegelt. Danke bestens, wir sind schon groß, können durchaus denken und sogar unseren Namen schon selber mit Tinte schreiben! Wir wissen außerdem,
dass man die Nase nie so hoch tragen sollte, dass es einem (bei einem plötzlichen Wolkenbruch zum Beispiel) reinregnet!
74 Unter Verwendung diverser philosophischer Hämmer übrigens, über die bei Nietzsche mehr in Erfahrung zu bringen ist.
75 Alles außerirdischen Handelns übrigens auch! Raumschiff Enterprise und Kollegen liefern ja den unwiderlegbaren Beweis, dass sich auch auf anderen Planeten alles
gegenseitig ans Leder will! An dieser Ideologie hat gute fünfzig Jahre lang keiner ernsthafte Zweifel angemeldet. Selbst wenn wir etwas Gutes tun, hieß es, indem wir
beispielsweise einem Bettler einen Fünfer in den Hut werfen, dann tun wir auch das im Grunde genommen nur aus egoistischen (!) Motiven heraus. So geistert die Fabel vom egoistischen
Wohltäter denn auch durch die einschlägige Literatur. Sie geht auf das 1976 erschienene Buch The Selfish Gene - Das egoistische Gen des Soziologen Richard Dawkins (*1941)
zurück, der von der Warte des „Soziobiologen“ herunter doziert (s.o), doch darf die Bezeichnung Biologie in dieser Forschungsrichtung niemanden darüber hinwegtäuschen, dass Dawkins
völlig unwissenschaftliche und eigentlich auch verantwortungslose Mutmaßungen produziert, wenn auch mit leider großer Breitenwirkung: seine Bücher sind Mainstream, das lässt sich nun nicht mehr
ändern. Leider fand sein neurowissenschaftlich unhaltbares Mem ( als kleinste Einheit einer kollektiven Erinnerung) sogar Eingang ins Oxford Dictionary of English, worauf sich Dawkins auch
mächtig was zugute hält. Kluge Leute haben inzwischen aber nachweisen können, dass er sich die Tatsachen ein wenig zurechtlegt, damit sie besser zu seinen Vorurteilen passen.
Doch die Mär vom egoistischen Wohltäter wird weiter kolportiert. Sogar in der Ratgeberliteratur empfehlen Autoren, denen das Zeilenhonorar offensichtlich keine Zeit zu tiefergehender
Reflexion lässt, dass man ruhig mal was Gutes tun oder etwas spenden soll, weil man dann von „Glückshormonen überschwemmt wird und so sein Immunsystem stärkt.“ Wohltätigkeit wird also durchaus
empfohlen, weil sie in etwa dieselbe gesundheitsfördernde Wirkung hat wie Vitamintabletten, Nordic Walking oder diese Omega-3-Schote, die ich schon nicht mehr hören kann. Man sollte
ja denken, dass auf solch verquere Ideen nur Leute kommen können, die nicht alle Tassen im Schrank haben oder wenigstens ein Sandkastentrauma vorweisen können. Dawkins & Co.
streift offensichtlich nicht einmal peripher der Gedanke, dass ebendiese Glückshormone gerade der Beweis dafür sind, dass der Mensch auf Kooperation und nicht auf Konkurrenz angelegt
ist. Dawkins schafft es dennoch, unseren natürlichen Hang zu Empathie als Ausdruck unseres Egoismus zu interpretieren (weil wir ja an die leckeren Glücksbonbons wollen und nur deswegen nett sind
und weil wir selbst und unser hoffnungsfroher Nachwuchs indirekt von diesem Eine-Hand-wäscht-die-andere-Prinzip profitieren). Diese Argumentation ist entweder von unglaublicher Perfidie
oder aber sagenhafter Dummheit charakterisiert, und ich neige mal zum einen, mal zum anderen Erklärungsmodell, je nachdem, ob ich darüber vor oder nach dem Mittagessen nachdenke (
nach dem Essen, wenn ich etwas milder gestimmt bin, tendiere ich zu der zweiten Variante, die nicht ganz so schlimm ist.) Der gute alte Charles Darwin würde wahrscheinlich im Grab
rotieren, wüsste er, dass seine Epigonen, allen voran der seltsame Thomas Huxley ( 1825-1895), besser bekannt als Darwin´s bulldog, aus seinen Erklärungsmodellen sofort frühe Formen des später so
genannten „Sozialdarwinismus“ zurechtbastelte. The survival of the fittest und der Kampf aller gegen alle erklärte aber auch zu schön, warum einige Völker andere kolonialisierten. Und warum
sich der rücksichtslose Herrenmensch fürderhin keinen Gewissensbissen mehr auszusetzen brauchte. In aller Literatur zum Thema Soziale Intelligenz ( bzw. auch zu den
hochinteressanten Spiegelneuronen) wird übrigens mit Dawkins & Co. abgerechnet. Vor allem der geniale Joachim Bauer geht mit seinen Buch Warum ich fühle, was du fühlst ( München:
Goldmann 2011) mit der Soziobiologie ins Gericht. Es beweist, dass die als Fakt verkaufte Hypothese von der egoistischen Natur des Menschen eben nur ein Mythos ist, der ein paar Soziopathen und
anderen Finsterlingen aber immer schon gut in den Kram gepasst hat.
76 …außer in den Hochsicherheitstrakten unserer Knastanlagen oder in einer schönen Gummizelle, wo diese Gestörten zu ihrer eigenen und unser aller Sicherheit auch besser aufgehoben
sind.
77 /78 Das ist zweifellos auch der Grund dafür, dass der olle homo oeconomicus vor einigen Jahren von ein paar wirklich klugen Köpfen so richtig ins Gebet genommen
wurde. So kam es, dass er schon in der Abstellkammer der Wirtschaftstheorie verschwunden war, wo er zweifellos auch irgendwann der wohlverdienten Vergessenheit anheimgefallen wäre.
Doch dann passierte etwas für alle Unerwartetes: im Herbst 2011 (!) erhielten nämlich zwei amerikanische Wirtschaftswissenschaftler den mit etwa einer Million Euro dotierten
“Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften“, kurz auch Wirtschaftsnobelpreis genannt, den die Schwedische Reichsbank seit 1968 jedes Jahr vergibt. Christopher Sims und
Thomas Sargent hatten den schon seit einiger Zeit totgesagten homo oeconomicus wieder zum Leben erweckt und in seine Rechte eingesetzt. Das Modell, betonten sie, stehe für die nicht von der Hand
zu weisende Tatsache, dass alle Entscheidungen - nicht nur wirtschaftliche wohlgemerkt, auch ganz private - letztlich durch die miteinander konkurrierenden Eigeninteressen aller
Marktteilnehmer motiviert sind. Wir sind also mit anderen Worten alle nur darauf aus, nach weitgehend rationalen Gesichtspunkten unseren Nutzen und unser persönliches Wohlbefinden zu maximieren,
gern auf Kosten unserer Nebenmenschen übrigens. Christopher Sims und Thomas Sargent erhielten den Preis für ihr unermüdliches Reanimierungsprogramm, weil “die Wirtschaftswissenschaft” - wie
es in der Begründung des Komitees hieß - “vorerst nicht ohne dieses Denkmodell auskommen kann.” Das bedeutet, wenn ich das in eine etwas verständlichere Alltagssprache übersetzen
darf: man weiß zwar, dass das Konzept falsch ist, aber man benutzt es trotzdem unverzagt weiter, weil man noch nichts Besseres gefunden hat. Das ist in etwa so, als plante man eine Reise
von Tanger nach Timbuktu und durchsuchte - da eine passende Karte gerade nicht zur Hand ist - seinen Dachboden, wo sich aber nur, sagen wir, die Kompass-Wanderkarte No. 02 von Oberstaufen
findet. Dass eine falsche Karte besser ist als überhaupt keine, ist eine schon etwas -im wahrsten Wortsinne- abwegige Idee. Wie sagte Einstein in einem ganz ähnlichen Zusammenhang? Wer auf
so was kommt, ist “entweder verrückt oder Wirtschaftswissenschaftler“. Wenn man sich darüber hinaus noch einmal verdeutlicht, dass der Preis drei Jahre nach der großen Finanzkrise vergeben wurde,
die bekanntlich durch das völlig irrationale Verhalten fast sämtlicher beteiligten Investoren ausgelöst wurde, dann kann man leicht den Verdacht schöpfen, dass dem Nobelpreiskomitee
irgendeiner was in den Tee getan haben muss, was sich jetzt allerdings nur noch schwer nachprüfen lässt, fürchte ich. Immerhin müssen wir dem armen Komitee zugute halten, dass diese angeblich
hochwissenschaftlichen Zusammenhänge auch wirklich nur schwer zu durchblicken sind. Eigentlich soll sie auch niemand verstehen. Da ist es nur allzu verständlich, dass man in Stockholm inzwischen
zum Gießkannenprinzip übergegangen ist. Das ist sicher auch der Grund dafür, dass der Wirtschaftsnobelpreis des Jahres 2013 an zwei Wissenschaftler ging, die einander diametral
entgegengesetzte Theorien vertreten: während Robert Shiller (immerhin!) vor der Irrationalität des Marktes warnt, besingt Eugene Fama eine perfekte Börsenwelt, ohne die wir unverzüglich in
einen Zustand vorindustrieller Dumpfheit zurückfallen würden. Dabei weiß inzwischen jedes Kind, dass die Börse mit der Realwirtschaft seit über zwei Jahrzehnten in etwa noch so viel zu tun hat
wie ein Dinosaurier mit einem Kanarienvogel, nämlich (so gut wie) nichts. Ein paar Gene sollen besagte Urviecher ja mit unseren gefiederten Freunden noch gemeinsam haben, aber allzu viel
können es wirklich nicht sein.
79 Mein Liebling ist übrigens: Don´t just sit there. Save the world! Man kann nämlich tatsächlich die Welt auch vom Küchentisch verändern. Davon bin ich fest überzeugt.
Jeder kann daheim, während nebenbei die Bohnen im Ofen schnurgeln, E-Mails schreiben oder auch richtige schöne altmodische Briefe. Er kann dort lesen, malen, schnippeln, nachdenken. Und
außerdem kann er an diesem Tisch Leute zusammenbringen. Auch welche, die sich noch gar nicht kennen, aber zusammenpassen würden. Doch darüber später mehr.
80 Über die „tools“, wie man neudeutsch die Instrumente nennt, derer sie sich bedienen, ist im nächsten Band des Handbuchs so einiges wirklich Haarsträubende nachzulesen.
Lassen Sie sich überraschen!
81 Dieser Wandel wird im Plastikdeutsch der Politik auch gern als Paradigmenwechsel bezeichnet: Paradigmen sind Leitbilder. Das Wort würde hier auch sehr gut passen - aber der
inflationäre Gebrauch des Begriffs macht ihn untauglich. Politiker benutzen den Paradigmenwechsel oft und gern, um den Wählern ihre Kompetenz nachzuweisen. Ich fürchte allerdings, dass uns
nur maximal jeder zweite erklären kann, was damit gemeint ist. Aber so ein Wort klingt natürlich schick, innovativ, ja geradezu visionär, um gleich noch eines der Lieblingswörter
unserer Führungseliten zu erwähnen, das auch mal auseinandergenommen gehört: der Visionär sieht sich gern als Heilsbringer des göttlichen Marktes, als sein vom Heiligen Geiz inspirierter Prophet.
Aber es ist eben ein falscher Prophet, vor dem man sich hüten sollte. Das steht schon so in der Bibel. Unser aller Helmut Schmidt riet diesen Visionären denn auch, mal zum Augenarzt zu gehen und
sich eine neue Brille verpassen zu lassen. Dem alten Fuchs hat natürlich nie einer was vormachen können. Verlassen wir uns einfach auf unser Gefühl: „wer nicht im Geruch der
Heiligkeit steht,“ ist garantiert ein Scharlatan. Allein diese Formulierung beweist, dass wir ein Gefühl für Falschheit haben, einen Sechsten Sinn, auf den wir uns einfach zu verlassen
brauchen.
82 ….sogar die Jungen, die mit den Skateboard warten und nur ihre (angeblich) Flügel verleihenden Energy-Drinks bezahlen wollen. Haben Sie jemals gehört oder persönlich
erlebt, dass ein Omchen von ihnen angemacht wurde? Wo sind die (vermeintlichen) Rotzlöffel also alle gerade? Natürlich hört und liest man immerzu von gewaltbereiten Jugendlichen, was aber kein
Grund ist, alle in einen Topf zu werfen. Lassen Sie Ihr Weltbild nicht von Menschen bestimmen, die etwas Staubsaugerhaftes haben und nur den Schmutz aufnehmen. Verallgemeinere nie! ist ein guter
Rat (den man aber auch nicht verallgemeinern darf). Wenn sich ein paar, zu einer gewissen Spießigkeit neigende Zeitgenossen denn auch gern über “die Jugend von heute” alterieren, fragen Sie
doch einfach mal nach, wen genau sie damit meinen. Damit können Sie die Phrasendrescher ganz schön durcheinanderbringen. “Die Jugend von heute “ trifft sich im “Club der Idealisten”, der zu
unserer Buchhandlung gehört einmal wöchentlich und diskutiert über Gott und die Welt, dass einem ganz schwummrig wird vor so viel geballtem Wissen.
83 „Leerformel“ ist der sprachwissenschaftliche Ausdruck für Begriffe oder Wendungen, die meist durch inflationären Gebrauch allen Bedeutungsinhalt verlieren und dann nur noch
rumstehen wie leere Bierdosen. Vor allem Wortprägungen, die zu manipulativen, propagandistischen Zwecken verwendet wurden, sind meist auf immer und alle Zeiten nicht mehr benutzen - was
bedeutet, dass wir alle ein sehr genaues Gespür für das Verlogene haben und diese Lüge dann auch instinktiv ablehnen. So sind sämtliche „unverbrüchlichen Freundschaften“ zwischen den
„sozialistischen Brüderstaaten“ kontaminiert etc.etc. Man kann zwar versuchen, ihre Elemente noch mal zu recyceln, so wie die genannte Bierdose, aber so recht wird nichts mehr daraus. Sie eignen
sich nur noch für ironische Zwecke. Wörter, die eine mehr oder weniger plötzliche Bedeutungsverschlechterung erfahren, bezeichnet man in der Sprachwissenschaft als verderbt. Inzwischen
hat´s sogar den Banker erwischt. Seit dem Riesenkladderadatsch im Oktober 2008 kann man als Berufsbezeichnung leichter „Eintänzer in einer Schwulenbar“ angeben als Banker oder gar
Finanzanalyst, ein Wort, dem man inzwischen auf Meilen das Perverse ansieht. Haben wir bloß noch nicht vorher gesehen. (Ist mir auch erst kürzlich beim Scrabblen aufgefallen.) Aber apropos
Bedeutungsverschlechterung: der Idealist befindet sich leider schon länger auf dem sprachlichen Abstellgleis, wohin er von den Realisten verschoben wurde. Wenn es uns bzw. diesem Buch
nicht irgendwie gelingt, den Idealisten zu retten ( d.h. sowohl das Wort, wie das, was es bedeutet), dann ist Idealismus demnächst gleichbedeutend mit einer vorübergehender Phase in der juvenilen
Entwicklung, die man nicht weiter ernst zu nehmen braucht, weil sie „sich von alleine gibt“ und allerspätestens mit dreißig vorbei ist. Wenn das Buch es aber schaffen sollte, den Idealisten
von diesen Abstellgleis wieder dahin zu befördern, wo er hingehört, und ihn wieder zu Ruhm und Ehre zu bringen, dann will ich schon damit sehr zufrieden sein. Dann hätte ich wenigstens ein Wort
und das, was es bezeichnet, vorm Untergang gerettet. Was, bei Licht betrachtet, schon eine ganze Menge ist.
84 Es ist schon hochseltsam, wie dieses Frikadellen-Imperium ganz einfach einen Satz „I´m loving it“- „ich liebe es“ rotzfrech mit einem Trademarksymbol brandzeichnet und
kurzerhand als Privatbesitz erklärt. (Meins!) Demnächst werden dann wohl auf Wörter Copyrights angemeldet wie jetzt schon auf Saatgut - und zwar nicht etwa nur auf gen-technisch verändertes,
sondern auf ganz normale Sorten, die immer schon Allmende waren. Das hatte zur Folge, dass indische Reisbauern für das Anpflanzen traditioneller (!) Sorten Tantiemen zahlen bzw.
hybrides Saatgut kaufen sollten. Das ist Gott sei Dank zurzeit vom Tisch. Aber wer weiß, auf was für abstruse Ideen die Herren der Welt sonst noch alles kommen. Merke: so krank, wie
die sind, kann man gar nicht denken. Deswegen ist Phantasie gefragt, eine sehr nützliche Eigenschaft, weil sie die Fähigkeit umfasst, in Konsequenzen zu denken. Merksatz 2: diese
Global Players, die die Geschicke des Planeten lenken, haben sich alle Regionen ihres Gehirns, die nichts mit Zahlen zu tun haben, rausnehmen lassen, also auch alles Schamgefühl. Wie unsere
Azubis sagen würden: die scheißen sich gar nichts. In der Kürze liegt die Würze. Ich hätt´s nicht besser ausdrücken können.
85 Auch das schöne alte „Immer mit der Ruhe„ ,„Soviel Zeit muss sein“, „In der Ruhe liegt die Kraft“, „Kein Stress“ und andere Sätze erfüllen
ähnliche Funktion. In den Staaten ist es ein „Take it easy“, aber häufig auch „no sweat“
oder auch das internationale „no problem“ alias „no ploblem“ in den eher Pidgin sprechenden ehemaligen englischen Kolonien. Zauberhaft ist auch das australische „No worries, mate!“.
86 Lange hieß es, dass “Nett die kleine Schwester von Scheiße” ist. Aber das wollte ich nicht so in den Haupttext schreiben. Der Satz ist, wenn man´s recht bedenkt,
einfach nur furchtbar. Die Weigerung nett zu sein, dafür aber immer schön cool zu bleiben, hat eine unsichtbare zwischenmenschliche Wand aufgebaut. Der Coole zeigt sich
unbeeindruckt von allen und allem. Jede Form von Interesse, Anteilnahme oder gar Solidarität geht ihm völlig ab, was die Eltern und Lehrer dieser Generation schier zur Verzweiflung getrieben hat.
Der Versuch, die ach so coolen Kids für irgendetwas zu begeistern, schien nämlich in etwa so aussichtsreich zu sein wie der, aus einem Waschlappen Funken zu schlagen - und das legt sich
einem auf die Dauer wirklich aufs Nervenkostüm. Vor vier, fünf Jahren zeigten sich aber schon die ersten Risse im Putz: die neue Nettigkeit kam auf und das oben näher beschriebene
“Alles gut!”. Jungen Leuten, die in die Buchhandlung kommen und irgendwas besonders cool finden, erzähle ich, wenn ´s ins Gespräch passt, dann schon auch mal die Sprachgeschichte des
Wortes, die kaum jemand kennt: diese Coolness geht auf die amerikanischen Sklaven des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts zurück. Cool zu sein galt damals als Form passiven
Widerstands: man zeigte sich unbeeindruckt von psychischem und physischem Druck, tat seine Arbeit wie geheißen und war innerlich frei. Und das finden die Kids von heute durchaus cool.
87 Der Mainstream hat sie vor allen dazu erzogen, ihren Willen durchzusetzen ( „Du willst es, du kriegst es“ wirbt zurzeit denn auch ein marktbeherrschender Elektronikhändler,
ein anderer lockt mit einem lüstern vorgetragenen „Du willst es doch auch!“ ). Diese eigentlich antisoziale Haltung versucht er uns seit Jahrzehnten als gesundes Selbstbewusstsein zu
verkaufen. Jeder, der neben den üblichen fünf Sinnen noch einen sechsten hat, ahnt schon länger, dass diese eigenartige Betonung des Selbstbewusstseins, das wir angeblich alle
brauchen, irgendwie stinkt. Oder kennen Sie jemanden, der durch selbstbewusstes Auftreten sympathischer geworden wäre? Ich wage zu behaupten, dass genau diese mangelnde
Kooperationsfähigkeit einsam macht. Was in der Absicht der Bewusstseinsingenieure liegt: das war sozusagen der Plan. Aber die Tour müssen wir ihnen unbedingt vermasseln! Meinen Sie nicht,
dass wir das als Gesellschaft hinkriegen könnten? Indem wir zum Beispiel den coolen Kids nicht mit unverhohlenem Vorwurf begegnen, sondern sie über das globale Brainwashing aufklären.
Trends hinterherzuhumpeln ist genau das, was der Mainstream von uns will. Die echten Trendsetter aber schaffen ihre eigenen Gegenkultur.
88 … und das manche, die mit der Ungnade der späten Geburt zu kämpfen haben, nicht einmal mehr wiedererkennen könnten - weswegen richtiges Brot für ihre an Papp- und Pseudobrot
gewöhnten Geschmacksnerven ein echter Schock ist. Das ist der Grund dafür, dass wir in unserem Kaffeehaus auch gern unsere Sauerteiggeheimnisse verraten und jeder der mag, erhält völlig
kostenfrei auch noch ein Tütchen getrockneten Sauerteig dazu mitsamt einer genauen Anleitung, wie daraus ein Brot herzustellen ist. Dieses Rezept ist so unglaublich einfach - und doch: es
verändert, verzaubert möglicherweise Ihr Leben. Machen Sie einfach mit! Ein Club der Idealisten kann auch ganz einfach
nur ein Brotbackverein sein, in dem man sich mehr oder weniger regelmäßig trifft und miteinander austauscht. Den Sauerteig dafür schicken wir Ihnen gerne!
89 Wer Augen hat zu sehen - oder über ein entsprechendes Vergrößerungsglas verfügt - sieht diesen Verdacht in der Regel nach einem Blick aufs Etikett auch bestätigt. So las ich
unlängst auf einem Marmeladenglas aus dem Angebot einer Großbäckerei, dass für die Konfitüre auch gehärtete und ungehärtete Fette verwendet wurden. Nun frage ich Sie: was tun Fette - ob
gehärtet oder nicht - in einer Marmelade? Das erklärt vielleicht auch, warum das Zeug so schmeckt wie Wagenschmiere.
90 Die Ampellösung, Sie erinnern sich, hat die Industrie gerade noch abschmettern können, den Lobbyisten sei Dank. Sonst hätte der Verbraucher ja auf den ersten Blick sehen können,
was ihm da angedreht wird. Und das gilt es natürlich zu vermeiden!
91 Auf der letzten Buchmesse traf ich einen lieben alten Kollegen, der für sein Leben gern kocht und auch so aussieht, das heißt, er hatte immer ein paar Pfunde mehr
auf den Rippen. Deswegen wunderte ich mich, ihn nicht mehr so ein wenig mockelig, wie man hier sagt, anzutreffen, sondern völlig abgemagert und graugesichtig. Auf mein vorsichtiges
Nachfragen verriet er mir freimütig, dass er seit nunmehr einem halben Jahr unter dem leidet, was man im Volksmund auch als „Flotte Lotte“ bezeichnet, zuweilen auch als „Montezumas Rache“,
um nur ein paar der eher blumigen Ausdrücke zu verwenden, die diskret verhüllen, was eigentlich damit gemeint ist. Kein Arzt habe ihm bislang helfen können, er sei ganz verzweifelt.
Selbst wenn er nichts weiter als seine geliebten Bratkartoffeln esse, das Ergebnis sei leider immer dasselbe. Ich fuhr nach diesem Gespräch wieder nach Lindau zurück, aber irgendwie wollten mir
diese Bratkartoffeln nicht aus dem Kopf gehen. Bis ich eines Morgens auf die Idee kam, ihn einfach mal zu fragen, wie er seine Kartoffeln denn würze. Ich rief ihn also an und er berichtete mir,
dass er seit Jahren ein und dasselbe Bratkartoffelgewürz verwende, das er einmal im Jahr auf dem Weihnachtsmarkt bei dem Gewürzhändler seines Vertrauens kaufe. Da sei noch nie was passiert. Dass
sich die Rezeptur vielleicht geändert haben könnte, ist ein Gedanke, der ihn leider nicht einmal streifte, denn Buchhändler gehören zu der eher vertrauensseligen Sorte Mensch, die nicht Phantasie
genug haben sich vorzustellen, auf welch kranke Ideen andere Hirne zuweilen verfallen. Und doch: es sollte sich herausstellen, dass die aus China importierte Ware inzwischen mit Mottenpulver (!)
gleicher Provenienz verschnitten war. So kann ´s also gehen. Seit lebensmitteltechnische Kontrollen als Handelshemmnis betrachtet und entsprechend lax gehandhabt werden, gibt´s
ohnehin kein Halten mehr. Und mit TTIP wird´s dann noch mal schlimmer. Ganz ehrlich. Wollen wir das? Wollen wir amerikanische Schokolade essen, die laut Gesetz (!) auf „100 Gramm 60
Insektenteile oder ein Haar eines Nagetiers“ enthalten darf - das ist in den Staaten wirklich Gesetz, ich mache Ihnen nichts vor! Jeder, der mal in den USA oder in Kanada war und aus Versehen in
den Genuss dessen gekommen ist, was man dort unter Schokolade versteht, wird Ihnen gern bestätigen: sie schmeckt genau so. So, als hätte da einer Maikäfer mit rein vermahlen.
92 Lindan-verseuchtes Toastbrot - darüber berichtete vor nicht allzu langer Zeit die Süddeutsche Zeitung. Die Sache war aufgeflogen, als ein Rentner mit
unerklärlichen Hautausschlägen und anderen beunruhigenden Symptomen zum Arzt ging. Auf die Frage, was er denn so esse, antwortete er, dass er eben wegen seiner Probleme eigentlich nur noch Tee
und Toastbrot zu sich nehme. So fand der Arzt auch gleich den Schuldigen: die Brotfabrik hatte, wie sich herausstellen sollte, zum Zwecke der Gewinnmaximierung ihr Mehl mit Sägemehl (!)
gestreckt. Da sehnt man sich doch fast ins Mittelalter zurück, da Bäcker, die sich solche Nummern leisteten, in einen Korb gesteckt wurden, den man mal kurz unter lebhafter Anteilnahme des
geschädigten Publikums in einen Brunnen tauchte oder in ein anderes geeignetes Gewässer. Heute haben wir immerhin die Stiftung Warentest.
93 Es gibt Menschen, die sich täglich bis zu zweihundertfünfzig Nahrungsergänzungsmittel einwerfen, las ich unlängst bei Hans-Ulrich Grimm: Vom Verzehr wird abgeraten. Wie uns die
Industrie mit Gesundheitsnahrung krank macht.( München: Droemer-Knaur, 2013); wie sie das macht, darüber ist mehr bei Christian Kreiß: Gekaufte Forschung. Wissenschaft im Dienst der Konzerne
(Europa-Verlag, 2015) in Erfahrung zu bringen.
94 Mit Ausnahme von Frau van der Leyen und der hübschen Sahra Wagenknecht natürlich, die ich mir beide auch als Kanzlerinnen vorstellen könnte. Sahra Wagenknecht würde auch nie über bewaffnete
Auseinandersetzungen mit Russland nachdenken, die andere Politiker und Politikerinnen in diesem Land offensichtlich nicht ausschließen. Wie kommen die dazu? Allein das sollte uns klarmachen, dass
Gefahr in Verzug ist! Ein Krieg im Jahr 2016? Es geht nämlich schon längst nicht mehr um ein paar Sanktionen und ein wenig Säbelrasseln gegen Russland, dessen Rüstungsetat nicht einmal ein
Zehntel dessen beträgt, was in den Staaten verpulvert wird: das können Sie alles bei Attac nachlesen und anderen Vereinen, die sich kein X für ein U vormachen lassen. Achten Sie mal darauf,
recherchieren Sie ein wenig, abonnieren Sie die Newsletter und schicken Sie sie weiter! Und unterstützen Sie einen der wenigen wirklich vernünftigen Politiker dieses Landes - unseren
Außenminister Steinmeier nämlich, der zu Besonnenheit aufruft. Schreiben Sie ihm und seinen Leuten - die antworten Ihnen auch getreulich. Herr Steinmeier wäre der beste Kanzler, der sich denken
lässt, womit ich jetzt aus Versehen in der Tagespolitik gelandet bin, aus der ich mich eigentlich heraushalten wollte. Aber manchmal geht´s eben nicht anders! Da soll doch einer!
95 Darin steckt das lateinische origo für Ursprung. Das Originelle ist also das Neue, noch nicht Dagewesene, das wirklich auf seinen Autor ( lat. auctor =Urheber) zurückgeht und nicht
auf irgendjemand anders, der ihm als Vorbild dient. Oder bei dem er gerade „abkupfert“. Die Sprachgeschichte dieses Wortes führt auf ein paar gedankliche Nebengleise, doch lassen Sie mich Ihnen
dazu ein wenig aus meinem buchhändlerischen Nähkästchen plaudern. Dieses Abkupfern geht auf die Zeit vor der Erfindung vielfarbiger Drucke zurück, da die Werke großer Künstler als Kupferdruck
kopiert werden mussten, wenn man sie einem größeren Publikum zugänglich machen wollte. Nach getaner Arbeit werden die betreffenden Künstler dann auch schon mal auf ein Bier zusammen beim Wirt um
die Ecke gesessen und fraternisiert haben, worauf die schöne Wendung „Alter Freund und Kupferstecher“ zurückgeht. Die Künstler waren meist gute Freunde: deswegen findet man auf Kupferstichen auch
stets den Namen des Malers in einer Ecke mit dem lat. pixit (= er malte) und in der anderen XY sculpsit ( =er stach, stichelte). Nun gab es allerdings in Zeiten vor dem geregelten Copyright
auch jede Menge Galgenstricke, die es mit dem geistigen Eigentum nicht so genau hielten und sich die Tantiemen sparten, indem sie „abkupferten“. So kam bis weit ins neunzehnte Jahrhundert
auch so gut wie jedes Buch, das zum Beispiel in England erschien, in den Staaten als Raubkopie auf den Markt. Das Problem ist leider immer noch nicht vom Tisch: das e-book, das als Idee
durchaus seine Meriten hat, hat in Sachen Copyright keine ganz reine Weste. Weswegen einige Anbieter jetzt auf die geniale Idee gekommen sind, Hobbyautoren ihre zuweilen etwas
unterreflektierten Texte hochladen zu lassen. Diese Geräte (ich hier keine Namen, aber wäre ich das Münchner Kindl, würde ich mich darüber wirklich grämen) - diese Lesemaschinen
verfügen denn auch über eine beeindruckende Anzahl von Titeln, in denen man auch sicher das eine oder andere Juwel findet. Mehr sage ich zu diesem Thema nicht. Ich verkaufe inzwischen
selber tolinos in meiner Buchhandlung, weil ich finde, dass man ja das eine tun und das andere nicht zu lassen braucht. Und auf Reisen mag so ein Teil ja auch ganz praktisch sein. Schade finde
ich an dem Trend zum elektronischen Lesen allerdings, dass man unterwegs im Zug jetzt nicht mehr ohne weiteres erkennen kann, was das Gegenüber liest: Precht? Goethe gar? Oder Stephen King? Zu
einem Stephen-King-Leser hätte ich mich jedenfalls nie ins Abteil gesetzt, zu Matthias Matussek oder Harald Martenstein aber immer! Auch zu Vince Ebert oder Bill Bryson würd ich mich gesellen,
denn ich lache für mein Leben gern.
Heut ist das nicht mehr ganz so einfach zu entscheiden, was wir wohl oder übel als weiteren Kulturverlust verbuchen müssen. Heute sitze ich vielleicht sogar jemandem gegenüber, der gerade
die eine oder andere Sexszene durchlebt, uh, wobei mich regelmäßig der Gedanke streift, dass Pfefferspray eigentlich gar keine so schlechte Idee war. Gott sei Dank bin ich meinen überreifen
Jahren vor diesbezüglichen Begehrlichkeiten relativ sicher, doch ich rate meinen jungen -und durch die Bank sehr hübschen - Kolleginnen immer, sich ins Großraumabteil zu setzen, wenn sie
zum Beispiel auf die Buchmesse fahren. Da kann nichts passieren. Außerdem sitzt man da meistens neben jemandem und kann schon mal linsen, was der andere auf dem Schirm hat, bevor man entscheidet,
ob man mit ihm ins Gespräch kommen möchte oder lieber nicht.
Ich habe in meinem Leben allein durch Bücher, über die man miteinander ins Gespräch kam, so wunderbare Menschen kennengelernt, dass mein Leben um einiges ärmer wäre, müsste ich sie mir wegdenken,
was gar nicht geht. Ja, wenn ich´s recht bedenke, wär´s sogar völlig anders verlaufen, hätte ich nicht in einem Münchner Kaffeehaus die „deutsche Unsinnspoesie“ in einer Reclam-Ausgabe
gelesen, während neben mir ein distinguierter Herr saß, der auch Reclam las: Fontanes „Vor dem Sturm“ nämlich. Dann folgten die zwanzig schönsten Jahre meines Lebens.
96Emotional intelligente Menschen verfügen denn auch über Antennen, die man bis vor kurzem in den Bereich der Esoterik verwies, aber es gibt sie eben doch. Auf ihren Radarschirmen taucht
alles Falsche, falsch Klingende bald auf, wenn auch nicht ganz so schnell in der Musik. Vielleicht würden Physiker, die sich näher mit der Sache auseinandersetzen, nachweisen können, dass diese
Musik auch im wörtlichen Sinne auf einer “ganz anderen Wellenlänge” liegt. Vielleicht bilde ich mir das nur ein, aber ist nicht diese gemeinsame “Wellenlänge“, die wir bei manchen
Zeitgenossen schmerzlich vermissen, ein eigentlich ziemlich sinnfälliger Beweis dafür, dass sich die Intelligenz der Vielen am ehesten in solchen unbewussten sprachlichen Bildern zeigt?
Wenn wir es nur irgendwie schafften, unserem Gefühl wieder mehr zu vertrauen, dann könnten wir alle nicht nur Kunst von Kitsch unterscheiden ebenso wie Richtig von Falsch, dann wir wüssten
überdies sofort, welche Art von Zeitgenossen eben nicht auf dieser “Wellenlänge” liegen. Stellen Sie nur einmal vor, wir hätten so etwas wie einen vollautomatischen Banausen-Detektor! Am
besten gleich einen mit Frühwarnanlage! Wie viel Zeit da gespart wäre! Zeit, die sich schon wieder für Sinnvolleres verwenden ließe, zum Lesen zum Beispiel.
Aber apropos Lesen und Wellenlänge: selbst wenn ich es, wie bereits oben erwähnt, überhaupt nicht mit Esoterik habe, so glaube ich doch, dass all die guten Energien, die in ein Buch
fließen, auf jeden wirken. Wie sonst ließe sich erklären, dass eine wirklich schöne Buchhandlung selbst Menschen verzaubert, die auch nach eigener Aussage nicht so direkt der
„Büchertyp“ sind? In der Musik ist es dasselbe m.m.: auch wer sein Leben lang nur Dieter Thomas Heck und Kollegen ausgesetzt war, spürt, dass die himmlischen Sphärenklänge eines Bach,
Vivaldi oder Mozart auf einer völlig anderen Wellenlänge liegen. Könnten ein Physiker, ein Sprachwissenschaftler und ein Soziologe sich nicht einmal zusammentun und da ein wenig forschen ?
97 In dieser Formulierung steckt übrigens ein wenig mehr als naiver Kinderglaube, den man Idealisten ja gern andichtet. Tatsächlich haben wir alle ein angeborenes Gefühl für
Fairness und Gerechtigkeit. Deswegen lehnen gesunde Menschen auch jede Fabel ab, die verstörenderweise ungut enden will. Seit der Antike enden alle Dramen - seien es Komödien oder Tragödien - mit
der Wiederherstellung einer gewissen Ordnung, die die diabolos ( gr. / wörtlich: die „Durcheinanderwerfer“) eine Weile lang stören konnten. Das ist bei Shakespeare nicht anders und nicht einmal
in den Splattermovies, wie man die wirklich brutalen Streifen nennt, in denen die Regisseure auch schon mal ein wenig Blut in die Kamera spritzen lassen. Bäh. Aber das Gute siegt selbst hier
schließlich, nicht weil die Regisseure gute Menschen sind, sondern weil das Publikum es nicht anders akzeptieren würde.
Als zum Beispiel in den Walt Disney Studios unter Verwendung von brandneuer Pixar-Software die erste Version der Toy Story entstand, war der Anführer zunächst ein menschenverachtender Zyniker -
Tom Hanks, der ihm die Stimme gab, hasste den „Scheißkerl“, wie er ihn - durchaus zutreffend - nannte. So kam es, dass der Film von den Pixar-Gründern völlig neu gemacht wurde, von
Idealisten, die keine Mühe scheuten, etwas Richtiges, Gutes, Anständiges zu produzieren, während der Walt-Disney-Erbe Katzenberger, der den Streifen schon in die Kinos bringen wollte, dem
allgemeinen Druck nachgab. Toy-Story von Pixar wurde zu einem Riesenerfolg und Pixar über Nacht zum Star. Während die Katzenberger-Version ein Flop gewesen wäre, was wieder mal beweist, dass man
die Intelligenz der Vielen nie unterschätzen sollte! Glauben Sie, dass ein Film wie Ziemlich beste Freunde ohne unser Gespür für alles wirklich Wichtige zu einem solchen Erfolg hätte werden
können?
98 Mit einer gewissen Befriedigung möchte ich hier übrigens anmerken, dass wir durch einen gezielten Boykott nur wenige Exemplare eines Titels zu verkaufen brauchten, der der Feder eines
populistischen, extrem xenophoben Autors entquoll. Ich finde es ziemlich bemerkenswert, dass eben dieser Autor, der u.v.a. gegen die Kontamination des deutschen Volkskörpers mit
undeutschen Genen wettert, immerhin einen Namen trägt, der ursprünglich exakt aus der Ecke zu kommen scheint, in die er ballert. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Ich
bezweifle allerdings, dass ihm das aufgefallen ist. Ignoranten (gleich welcher Couleur und Beschreibung) zeichnen sich nur selten durch einen pfleglichen Umgang mit der Sprache aus -
und Sprachgeschichte ist ihnen ohnehin piepe. Aber dann kommen eben solche Sachen raus. Sätze, in denen ausmerzen zum Beispiel vorkommt, ein eigentlich sehr altes Wort, das auf Feld- und
Gartenarbeiten im Frühjahr zurückgeht („Im Märzen der Bauer“), das aber auf immer und alle Zeiten verderbt ist, wie es der Sprachwissenschaftler nennt. Und doch verwenden es viele Politiker immer
noch und in letzter Zeit sogar wieder häufiger - aber klar, sie können ja nicht mit Klemperers LTI (=„Lingua Tertiae Imperii“ - die Sprache des Dritten Reiches ) unterm Arm herumlaufen….
99 Leider, leider gibt´s immer mehr Buchhandlungen, die laut Anweisung ihres Betriebs- oder Steuerberaters nur noch „Schnelldreher“ vorrätig haben und auch die nur
„frontalpräsentiert“. Unter den „Klassikern“ findet der Bildungsbürger dann nur noch einen einsamen Sherlock Holmes, etwas Nietzsche vielleicht noch und kaum noch nachweisbare Spuren von
Jane Austen, damit hat sich´s dann aber auch schon. In diesen auf einen höheren „Drehfaktor“ getrimmten Buchläden gibt es zwar keine geschlossenen Buchreihen mehr, dafür aber
Salatschleudern, Frühstücksbrettchen ( aus angeblich nachhaltigem Bambus, der aber so nachhaltig auch wieder nicht sei kann, wenn man bedenkt, dass er um die halbe Welt geschippert wird, bevor
die Bretter hier für einen Euro fünf plus Märchensteuer vertickt werden. Wer in diesen gemainstreamten, verschlankten Buchhandlungen die Schachnovelle begehrt, die einst
überall zum Sortimentskern gehörte, kann lange suchen, denn die Schachnovelle ist der Warenwirtschaft zum Opfer gefallen. Die Warenwirtschaft, dieses Aas, hat nämlich den Steuerberatern
verraten, dass die Schachnovelle vielleicht noch drei, viermal geht im Jahr. Und das, findet er, ist einfach zuwenig. Außerdem ist er sowieso der Meinung, dass „Schach heute sowieso
niemand mehr spielt.“ (Kein Witz - eine liebe Kollegin hat mir die Anekdote unlängst erzählt. Sie hatte ihm daraufhin mit der Bemerkung die Stirne geboten: „Drehfaktor?“
„Umschlagsgeschwindigkeit ?“ Das ist hier eine Buchhandlung und kein Karussell! Fassen Sie sich, Mann!“ Ungelogen! ) In diesem von Kosten-Nutzen-Optimierern zerrechneten Buchhandlungen
steht auch garantiert niemand an der Kasse, der weiß, was gemeint ist, wenn jemand „Nette Gespenster“ oder so ähnlich sucht und nur noch weiß, dass es darin- um die Südstaaten der USA geht. Meine
Kollegin Angela Roeder erzählte mir die Geschichte unlängst - sie wusste gleich, dass Guten Geister von Kathryn Stockett (Goldmann 2013) gemeint waren, die übrigens auch ein Beispiel dafür
sind, dass die echten, großen Erfolge immer gegen den Mainstream unterwegs sind. Kathryn Stockett wurde von über siebzig Verlagen abgelehnt - das Thema hielt man für zu heiß. Bis ein kleiner
Verlag sich bereit erklärte, das Risiko einzugehen. Heute ist dieser Verlag nicht mehr klein - weil es überall vernünftige Menschen gibt, die richtig viel Geld für richtig gute, engagierte
Bücher ausgeben. Vielleicht kapieren ja auch die Mainstream-Verlage dereinst, dass es sich durchaus lohnen kann auf Bücher zu setzen, die zum Denken anregen. Und nicht nur auf solche, die
einem bloß die Zeit stehlen. Aber das wird schon noch dauern, weil auch hier in den Führungsetagen Leute auf dem Vormarsch sind, die es mit Lesen nicht so haben.
100 Das ist nicht ganz korrekt: der homo sapiens erscheint wohl erst im Pleistozän, dessen Ende mit dem Beginn der Junsteinzeit zusammenfällt.
101 Der Evolutionsbiologie Carsten Niemitz (*1945) hat übrigens eine sehr interessante Theorie dazu entwickelt, die er in seinem Buch Das Geheimnis des aufrechten Gangs darlegt (München:
Beck-Verlag, 2011): er glaubt, dass der Mensch nicht etwa in der Savanne angefangen hat, sich aufzurichten, sondern in seichten Gewässern, in denen sich problemlos Muscheln und Krustazeen sammeln
und kleine Fische erbeuten ließen. Dafür spricht tatsächlich so einiges: der Spiegel berichtete darüber
www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/evolution-carsten-niemitz-erklaert-das-raetsel-des-aufrechten-gangs-a-822950; auch einen gleichermaßen betitelten Dokumentarfilm gibt es dazu, der eine
schlüssige Erklärung dafür bietet, dass Männer auf langbeinige Frauen stehen - sie dürften die tüchtigeren Jägerinnen gewesen sein…
102 In Band 2 des Clubs der Idealisten wird von Data Mining - wie man dieses weltweite Ausspionieren der Mediennutzer nennt - noch ausführlich die Rede sein. Ich
verspreche Ihnen von allem ausführliche Auskünfte über ein Projekt, das ein großer Konzern unlängst angeleiert hat - Ihnen werden die Haare zu Berge stehen! Ganz ehrlich: Sie brauchen
keinen Krimi mehr. Von David Oggers genialem Thriller Der Circle (Köln: Kiepenheuer und Witsch-Verlag, 2015) sind wir wirklich nicht mehr weit entfernt.
103 vgl. Frank Ochmann: Verführt - Verwirrt - für dumm verkauft. Wie wir Tag für Tag manipuliert werden und was wir dagegen tun können. Paderborn: Gütersloher Verlag 2013.
104 Für Technikmuffel - von denen es gerade in Idealistenkreisen ja eine ganze Menge gibt - sei hier die Bemerkung angefügt, dass Selfies mit dem Smartphone erstellte
Selbstportraits bezeichnen. Es gibt Leute, die nichts Besseres zu tun haben, als sich den ganzen Tag selbst mit ihrem Handy abzulichten und die Fotos dann irgendwo „reinzustellen“. Da
man den Bildern aber lange Zeit ansah, dass man keine Freunde hat, weil nämlich immer irgendwo der eigene Arm zu sehen war, gibt es jetzt auch noch diese Selfie-Sticks. Das sind
Teleskopstangen, mit denen man dann nicht nur etwas größere Bildausschnitte ablichten kann, sondern auch so tun, als hätte jemand anderes das Bild gemacht, und das ist schon
genial. Diese Selfie-Sticks sind zurzeit vor allem bei asiatischen Touristen beliebt, die auf ihren Reisen inzwischen nur noch auf Motiv-Jagd zu gehen scheinen
und sich liebsten noch mit Mona Lisa knipsen würden. Doch das haben die Franzosen inzwischen verboten, in den Museen jedenfalls. Beim Eiffelturm kann man offensichtlich nichts machen, da
scheint man inzwischen Schlange zu stehen, um sich mit mindestens einem Pfeiler im Hintergrund verewigen zu können, weswegen ich dort gleich ein Eis- oder Kaffeewägelchen aufstellen würde. Da
könnt man sich sanieren.
Hier in Lindau ist in Sachen Selfie-Stick inzwischen auch so einiges geboten: zuweilen stehen ganze Busladungen vor dem Wahrzeichen der Stadt -Leuchtturm und Löwe - alle mit Selfie-Stick und alle
mit diesem unvermittelt aufgesetzten plötzlichen Grinsen, bei dem man als unbeteiligter Betrachter auch ganz leicht einen kulturpessimistischen Schub erleidet. Deswegen
gehe ich auch immer ganz schnell weiter, wenn ich Selfie-Sticker erblicke. Ich lenke mich dann immer mit der schönen Geschichte vom Teufel ab, der einst mit einer armen Seele einen Rundgang
durch die Hölle gemacht haben soll, wo -durchaus erwartungsgemäß - ein einziges Heulen und Zähneknirschen herrschte und alle ganz elend aussahen und schlecht ernährt. Und das, obwohl
überall riesige Töpfe herumstanden mit leckeren Suppen und nahrhaften Fleischeintöpfen. In der Hölle, erklärte der Teufel dem Besucher, gibt es aber bloß lange Löffel, mit denen man die Suppe
zwar aus dem Topf kriegt, nicht aber zu Munde führen kann und das ist eben Teil der Strafe. Wie erstaunt war unser Besucher, als er auch einen Blick in den Himmel tun durfte: hier standen
die gleichen Gulaschkanonen wie in der Hölle und überall waren nur diese langen Löffel zu sehen. Aber alles war fröhlich und rotbackig und guter Dinge. Das liegt daran, erklärte Petrus,
dass die Guten sich gegenseitig mit diesen Löffeln füttern. Und auch noch Spaß dran haben. Le ciel, c´est les autres.
105 …die in den Siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ein wenig erweitert und auch etwas anders dargestellt wurde, was noch deutlicher werden ließ, worum es Maslow ging. Die
Graphik wird auch heute noch vielfach verwendet.
106 In der Fachliteratur wird der von Maslow geprägte Begriff der Selbst-Transzendenz oft auch mit Selbstverwirklichung wiedergegeben, aber das ist meines (vielleicht unmaßgeblichen)
Ermessens etwas völlig anderes. Denn ein bisschen Malen, Stricken, Häkeln und Makramee-Ampeln-Basteln hat mit Transzendenz nicht allzu viel zu tun.
Nicht dass ich etwas gegen Selbstverwirklichung hätte. Von mir aus können alle kreativ werden, bis der Arzt kommt. Was mich stört, ist, dass das spirituelle Element, das zur Tranzendenz
gehört, da offensichtlich absichtsvoll untern Teppich gekehrt wurde.
107 statt des Ge……fummels wählte einer unserer führenden Politiker damals ein etwas anderes, allerdings eher unfeines Wort, das sich auf nicken reimt. Doch das war sowohl
meinem Verleger, einem Gentleman alter Schule, als auch mir denn doch etwas zu krude. Der vulgäre Ausspruch ging damals durch sämtliche Medien. Wie gut, dass wir den Mann abgewählt haben, der
immer vom „Finanzplatz“ bzw. vom „Standort Deutschland“ schwärmt. Allein schon für diese beiden Begriffe würde ich ihm am liebsten eine Schadensersatzklage aufs Auge drücken, aber wollen
wir mal nicht so sein. Ich kann allerdings nicht umhin, an dieser Stelle zu vermelden, dass ich schon vor ein paar Jahren ein Konterfei dieses Herrn auf die Abfalltonne unter meiner Spüle
geklebt habe, wo er sich wenigstens hier etwas nützlich macht, indem er mich mit schöner Regelmäßigkeit daran erinnert, dass ich den Müll noch raustragen muss. Diese
Mülltonnentechnik kann ich übrigens nur sehr empfehlen! Ja, wenn ich´s recht bedenke, würde es auch etwas bringen, wenn wir alle unsere braunen, gelben oder wie auch immer gefärbten Tonnen mit
Texten und Bildern dekorierten, die keinen Zweifel darüber lassen, was man wirklich alles in die Tonne kloppen kann….. Die Mülltonne als Statement. Das hat was.
108 Hierzu muss ich Ihnen unbedingt eine ziemlich haarsträubende Geschichte erzählen, die mir eine meiner Buchhändlerkolleginnen unlängst erzählt hat. Ihr Steuerberater sei nämlich
von einem seiner Mandanten verklagt worden, weil er ihm nicht gesagt habe, dass er durch seinen Kirchenaustritt Geld sparen könne. Der Steuerberater verlor den Prozess. Wenn man solche
Dinge hört, kommt man mit Kopfschütteln kaum noch nach. Das sind dann die Momente, in denen man sich fragt, ob überhaupt noch irgendwas zu retten ist.
109 Neben den echten Wortimporten wie Kindergarten, Rucksack, Wanderlust werden Blitz(krieg), Ersatz, kaputt, Schadenfreude, Kohlrabi, jawohl und zack-zack
bzw. ruckzuck u.v.a. durchaus verstanden, worüber ein wacher Geist schon ins Grübeln geraten könnte. Außerdem gibt es noch die schon sprichwörtliche Angst. Über The German Angst machen sich
die Amerikaner denn schon auch seit vielen Jahren Gedanken, was uns ehrt, was aber nicht nötig gewesen wäre. Keine Angst zu haben kann nämlich ganz schön ins Auge gehen, scheint mir. Ein
bisschen mehr Reflexion hat noch keinem geschadet. Vielleicht wäre dann auch die Immobilienblase 2007 nicht geplatzt, bei der allein in den USA acht Millionen Menschen ihre Arbeit und sieben
Millionen ihr Haus verloren. Plus ihre Ersparnisse. Zu denen, die damals den Freitod wählten, fehlen allerdings zuverlässige Angaben, aber es gibt Schätzungen, die von sechs-, wenn nicht
siebenstelligen (!) Zahlen ausgehen. Was einem schon der Überlegung Anlass geben könnte, dass die Befürworter der Deregulierung entweder mit Blind- oder mit Blödheit geschlagen sind, jedenfalls
mit zwei Eigenschaften, die sie von Managementaufgaben disqualifizieren sollten. Ist es so abwegig, die Zyniker, statt sie auch noch zu belohnen, fürderhin zur Rechenschaft zu ziehen, so
wie es die isländische Regierung 2008 gemacht hat? Die Isländer, die von der Krise besonders stark betroffen waren, waren die einzigen Europäer, die ihre Banken gnadenlos haben pleite gehen
lassen, während sie ihre Bürger unterstützten. Und siehe da: heute ist der kleine Inselstaat wieder obenauf. Der isländische Ordoliberalismus scheint das Erfolgskonzept schlechthin zu sein.
110 Wenn man das Wort gerecht ganz einfach durch sozialverträglich ersetzt, wird dieser Satz auch Lesern einleuchten, die Moral im wesentlichen für
heiße Luft halten oder auch nur für eine Erfindung des Christentums. Doch gerechtes alias sozialverträgliches Handeln ist nicht nur das einzig Wahre, sondern auch das einzig Logische. Unsere
Hirne sind so gemacht - ungerechte Verhältnisse führen fast immer zu Gewalt. Und Gewalt zu Auflösung. In der Reihenfolge. Am Anfang steht also nie eine Gewaltbereitschaft, die von irgendwelchen
Sozialdarwinisten in uns hinein halluziniert werden. Nein. Der Auslöser sind immer sozial unverträgliche Maßnahmen, die oft auf einen einzigen Sozio- oder Psychopathen zurückgehen. Korrigieren
Sie mich gern, wenn ich mich täusche. Unsere Sehnsucht nach dem, was man oft und gern “als Werte” bezeichnet, wird übrigens so gut wie nirgends genau definiert. Was gehört eigentlich alles
dazu? Man ahnt es mehr, als dass man es weiß und eigentlich reicht das auch: mit diesem inneren moralischen Kompass finden wir nämlich auch bei Nacht und Nebel heim. Wie dieses
Navigationsinstrument im einzelnen aufgebaut ist, scheint auch gar nicht so wichtig zu sein: wichtig ist nur, dass es uns sicher nach Hause bringt und uns das Richtige tun lässt, ohne dass
wir groß darüber nachdenken müssten. Echte Idealisten tun nichts, was sich “irgendwie falsch anfühlt” - und wenn, dann schlafen sie schlecht. Auch lehnen sie intuitiv ab, was ihnen in eine völlig
falsche Richtung zu laufen scheint. Wenn das nicht zu Hoffnung Anlass gibt! Es gibt erstens diesen von Mutter Natur bereits vorinstallierten moralischen Kompass, dann gibt es zweitens
unser angeborenes Gerechtigkeitsgefühl und drittens das schlechte Gewissen, das wir haben, wenn wir etwas Unanständiges tun. Wozu, bitte, sollte dieses Gewissen dienen, wenn nicht zur Kontrolle
selbstsüchtigen Handelns? Die Chefideologen des Eigennutzes vergessen eben manchmal dieses schlechte Gewissen, das der vielleicht sinnfälligste Beweis für eine bereits von der Evolution
vorgegebene Impulskontrolle ist. Sie stellen es denn auch gern als etwas dar, das die Kirche sich als Instrument der Unterwerfung ausgedacht hat. Und tatsächlich ist in der Beziehung ja
auch so einiges schief gelaufen. Fest steht aber trotzdem, dass unser Gefühl uns meldet, wenn wir uns falsch verhalten haben. Und auch wenn es immer ein paar Leute mit mehr oder weniger
gravierenden Dachschäden gibt: unser Gewissen ist ein unwiderlegbarer Beweis dafür, dass das Gute in uns angelegt ist. Die Tatsache, dass es immer ein paar gewissenlose Egomanen gibt, verletzt
zwar unser Gerechtigkeitsgefühl, weswegen manche Kollegen auf stur schalten und sich auch egoistisch verhalten. Aber das ist eben auch keine Lösung. Vielleicht könnten ja wir
versuchen, den Resignierten gegenüber positive Signale auszusenden? Dann ließe sich eine ganze Menge von dem wieder hinkriegen, was in den letzten Jahren und Jahrzehnten falsch gelaufen
ist.
111 Auch der Erfolg der englischen Kultserie Downton Abbey ist ein solches Phänomen, das sich durchaus mit dem der Landlust vergleichen lässt. Die Serie ist in
England ein echter streetsweeper, der - und das ist gerade das Erstaunliche - jung und alt anspricht, worauf sogar ein Roman mit dem Titel While We Were Watching Dowton Abbey anspielt. Seit
Jahren wartet in England alles gespannt auf die neuen Entwicklungen im Leben einer englischen Adelsfamilie und ihrer Dienstboten, die einander stets mit dem größten Anstand und
Respekt zu behandeln bemüht sind. Und auch wenn es immer ein paar Quertreiber gibt - die Guten werden mit den Finsterlingen doch immer fertig. Dabei verzichten die Filmemacher
ganz bewusst auf die Art von Action, die man aus anderen Streifen kennt, aus amerikanischen vor allem, in denen offensichtlich immer irgendwas explodieren muss. Keiner, kein Insider vor
allem, hätte es für möglich gehalten, dass eine solche harmlose, von Märchenmotiven durchwirkte Fabel so erfolgreich werden könnte. Und doch - wer richtig hinsieht, weiß, warum es so kommen
musste. Alles, was man im Leben wirklich braucht, kann man nämlich aus Downton Abbey lernen und eben deswegen hat die Intelligenz der Vielen, der Anständigen, die Serie zu ihrem Liebling
erkoren. Der wunderbare Julian Fellowes, der das Drehbuch geschrieben hat, wurde übrigens vor nicht allzu langer Zeit in Anerkennung seines Lebenswerks geadelt. Sir Julian Fellowes hat überdies
eine Reihe von zauberhaften Büchern geschrieben, die ich Ihnen hiermit ebenso ans Herz lege: die Snobs und Eine Klasse für sich, beide von sprachlicher und inhaltlicher Brillanz und sehr,
sehr englischem Humor. Sie sind bei Goldmann erschienen.
112 Für den immerhin möglichen Fall, dass Sie die schöne Geschichte nicht kennen, hier ist sie noch einmal in Kurzversion: der Club der Witze-Erzähler ist übereingekommen, sämtliche
wirklich guten Witze säuberlich zu katalogisieren und mit Nummern zu versehen, sodass man sich fürderhin das Erzählen sparen kann, man braucht eigentlich nur die Nummer aufzurufen. Als eines
schönen Tages ein Neuling den Club besucht und die leicht surreale Situation zu durchdringen versucht, geschieht es, dass beim Ausrufen einer Nummer 889 plötzlich keiner mehr lacht, woraufhin er
sich natürlich erkundigt, warum das so ist. Die Antwort liegt natürlich auf der Hand: „die 889 war schlecht erzählt.“
113 Schon in einer Anwaltskanzlei kriegt man diesbezüglich so einiges geboten, worauf eigentlich niemand rechte Lust hat. Ich halte es für sehr fraglich, ob Juristen wohl
noch mal dasselbe studierten, wenn man sie rechtzeitig über all die schmutzige Wäsche ins Bild setzte, mit der sie täglich zu tun haben. Auch von der Arbeit in einer Bank dürfte sich so mancher
Banker ganz andere Vorstellungen gemacht haben, als er seine Ausbildung begann. Im Nu muss er etwas tun, was ihm völlig gegen den Strich geht und inzwischen scheint das so schlimm geworden zu
sein, dass kaum noch einer zuzugeben wagt, in dem Metier seine Brötchen zu verdienen. Auch Ärzte und Apotheker haben es nicht leicht: irgendwann sehen sie nur noch Kranke. Es hat also jeder
sein Päckchen zu tragen. Und jeder dürfte in seiner Ecke des Universums ein Weltbild entwickeln, das mit dem anderer nicht ganz kongruent ist.
114 “Cannabissel Gras denn Sünde sein?” wird er sich gefragt haben im letzten März, da der Bauer ja seit Urzeiten sein Rösslein einspannt, und so richtig, richtig übelnehmen
kann´s ihm eigentlich auch keiner: seine Tochter hat Schilddrüsenprobleme, die sie mit sehr starken Medikamenten behandeln müsste oder aber mit dem einen oder anderen Tütchen. Dann doch
lieber das Tütchen, sagten die beiden sich und der alte Bauer produzierte auf Anhieb, da er den grünen Daumen seiner Vorfahren geerbt hat, eine höchst qualitätvolle, richtig leckere Sorte, wie
man hört. Nicht, dass ich sie probiert hätte. Wenn ich mich wegschießen will, was hin und wieder mal vorkommt, reicht mir eine Packung Mon Chéri, die ich für Notfälle immer vorrätig habe:
Gras brauche ich nicht, denn ich bin ohnehin das, was mein früherer Steuerberater gern als “naturstoned” bezeichnet, also von Haus aus immer ein wenig high. Lange Zeit hielt er das für sehr
bedenklich, wenn nicht sogar therapiebedürftig. Deswegen ließ er sich angelegen sein, mich hin und wieder von meinem “Weltverbesserertrip” herunterzuholen. Das hat sich, dem Himmel sei´s gedankt,
seit der großen Finanzkrise ein wenig gegeben.
115 Wobei diese déformation ein Wortspiel ist: die formation professionelle ist die französische Bezeichnung für Berufsausbildung bzw. berufliche (Weiter-) Bildung. Die privative Vorsilbe dé-
bedeutet also nicht das, was man im Deutschen unter Deformation verstehen würde, sondern einfach nur die berufliche Voreingenommenheit. Das Phänomen ist der Medizin sehr gefürchtet: für ein und
dasselbe Problem schlagen Internisten und Chirurgen gern ziemlich unterschiedliche Therapien vor. Auch werden ein Psychologe und, sagen wir, ein Astrologe wohl selten darüber Einigkeit erlangen,
was einem Mandanten zu raten ist.
116 Tatsächlich bin ich schon seit meiner Kindheit ziemlich kurzsichtig und müsste eigentlich eine Brille tragen. Doch das lehne ich nicht etwa aus Eitelkeit ab. Ich
bin nur irgendwann darauf gekommen, dass man ohne Brille praktischerweise vieles nicht sieht und das ist mir sehr genehm. Mit Brille würde ich den ganzen Tag putzen - ich käme gar nicht
mehr zur Ruhe. Weswegen es ( unter vielem anderen) auch keines meiner Bücher je gegeben hätte. Ohne Brille sieht man vieles besser und lebt auch irgendwie entspannter, da man alles um sich
herum wie mit einem jener Weichzeichner dargestellt findet, mit denen die einst die klassische Photographie Licht in ihre Bilder zauberte. So kommt es, dass ich meinen Silberblick auf dem Guten,
Schönen, Wahren ruhen lassen kann und mich auch der nicht zu vermeidende Bücherstaub nicht über Gebühr stresst.
117 Im neuesten James Bond „Spectre“ trägt der smarte Mr.Kew eine ganz ähnliche. Und der rettet immerhin die Welt im Verein mit 007!
118 Interessant ist in diesem Zusammenhing vielleicht noch die Beobachtung, dass es jetzt überhaupt Brillenputztüchlein mit einem Zitat des Dalai Lama darauf gibt. Auch auf
Pillendöschen, Frühstücksbrettchen, Kaffeebechern und anderen, sagen wir, eher trivialen Gebrauchsgegenständen tauchen inzwischen nachdenklichere Texte auf, richtig tiefschürfende
mitunter, die zwar selten ordentlich zitiert werden, aber immerhin. Das war bis vor nicht allzu langer Zeit noch undenkbar. Denn eigentlich hat der Markt jahrelang versucht, uns
zu Oberflächlichkeit umzuerziehen, weil sich an, sagen wir, eher niedrigschwelligen Vergnügungen schneller und leichter Geld verdienen lässt.
Doch dann kam, keine Minute zu früh, Richard David Precht mit seinem sinnsuchenden Wer bin ich und wenn ja wie viele?, mit dem er dem wirklichen Zeitgeist aus der Seele sprach.
Seither ist so einiges anders. Inzwischen versucht der Markt ein bislang übersehenes Interesse an Transzendenz und an Weisheitsliteratur wenigstens in klingende Münze zu verwandeln, wenn er
die Entwicklung schon nicht im Griff hat. Allein schon deswegen bin ich der festen Überzeugung, dass Bücher, kluge Bücher, gerade jetzt mehr gebraucht werden denn je.
119 Die sprachgeschichtliche Herkunft des Wortes widerspiegelt noch diese Kampfbereitschaft: in Alarm steckt das (italienische) Kommando alle arme = an die Waffen! Ganz
ehrlich, mich erschüttert es zuweilen, wenn ich erleben muss, wie sich eher miesepetrige Menschen oft gegenseitig anpflaumen. Dieser Tage wurde ich Zeuge einer eher unschönen Szene in einer
Bäckerei. Dort hatte sich eine Schlange gebildet, aber ein Neuankömmling wagte es, daran vorbeizugehen und sich schon mal das Angebot anzuschauen. Gleich wurde er von einem Schlangesteher aufs
rüpelhafteste attackiert, worauf ich nicht anders konnte, als mit der lapidaren Bemerkung: „ So etwas nennt sich Aggressionsbereitschaft“ den Laden zu verlassen. Zumindest habe ich damit so
einiges an Verblüffung ausgelöst: es ist immer gut, wenn man für derlei Situationen ein paar Sätze in petto hat, mit denen man das Publikum erstmal beeindrucken kann. Mit „So etwas nennt
sich Aggressionsbereitschaft“ können Sie jeden Meckerfritzen ganz leicht kaltstellen. Jedenfalls fürs erste. Eine Kommilitonin von mir hat noch eine sehr elegante Technik: in ihrem Geldbeutel hat
sie stets ein paar Visitenkarten von einem gewissen Dr. A.M. Leuchter - statt sich auf das Niveau des Stinkstiefels herabziehen zu lassen, überreicht sie ihm die Karte mit den Worten: „Hier ist
die Nummer von einem wirklich guten Psychologen“. Zuweilen fügt sie noch ein „Da werden Sie geholfen“ hinzu und sie lässt erforderlichenfalls noch ein „Die nehmen sogar hoffnungslose Fälle“
nachklappen. Was meinen Sie, wie das wirkt! „Manchmal,“ sagt Charlotte, „muss man eben seinen pädagogischen Auftrag wahrnehmen. Better nate than lever, wie die Amerikaner sagen.“
120 Vielleicht interessiert Sie die (in diesen Zusammenhang passende) Tatsache, dass unsere Steuergelder für etwas so Hochspannendes wie Ekelforschung (ungelogen) verschwendet
werden, in deren Rahmen man das, wovon hier die Rede ist, auch herausgefunden hat. Die Ausgaben dafür hätte man sich auch sparen können, scheint mir. Man braucht bloß den Fernseher
anzuschalten und sich diesen solariumsbraunen Alt-Playboy anzukucken, der in einer in Deutschland angeblich beliebten Show den Ton angibt. Er ist für gleich zwei lexikalische
Einträge ein hervorragendes Beispiel: der Ekel und das Ekel. Aber vielleicht hat die Ekelforschung ja noch Potential: so hat man zum Beispiel Gehörlosen Filmaufnahmen gezeigt, die Politiker
bei vermeintlich besonders inspirierenden Reden zeigten - woraufhin die Probanden sämtliche Anzeichen von Ekel entwickelten. Da sieht man mal, was unsere Intuition so drauf hat! Ich
hab mir schon überlegt, dass ich vielleicht, sollte ich mal Tapetenwechsel brauchen, immer noch als Ekelforscher gehen kann. Stellen Sie sich überhaupt mal Visitenkarten vor wie „Hans Dampf
- Ekelforscher“! Die brauchen Sie bloß irgendwo vorzuweisen - damit lässt Sie jeder Portier (grinsend) durch.
121 Tatsächlich steckt dahinter eine Naturbeobachtung von Aristoteles, der glaubte, in einem Vogelei den sich bewegenden, „springenden“ Punkt erkennen zu können, hinter dem das
Herz des jungen Vogels schlägt. Zunächst war damit also der Punkt gemeint, von dem das Leben ausgeht. Als Metapher für den entscheidenden, wichtigen Punkt machte die Fügung in allen Idiomen
unserer Sprachfamilie Karriere.
122 Als Kinder sind wir zur Blaubeerenzeit ganze Tage im Wald abgetaucht, mit unseren Fünfliter-Blecheimern, die sich überhaupt gar nicht zu füllen schienen. Bickbeeren ( alias
Blaubeeren ) sammeln ist - wie vieles andere auch, was mit der Herstellung unserer Nahrung zusammenhängt - sehr, sehr mühsam und unfassbar langwierig, wovon sich, wer das fertige Produkt
verzehrt, oft keine rechte Vorstellung macht. Nach drei, vier Stunden hat auch eine geübte Sammlerin ein halbes Eimerchen davon voll, aber auch nur, wenn sie „eine Stelle“ gefunden hat.
Bickbeeren sind nämlich zickig - die Sträucher wachsen zwar überall, aber sie denken gar nicht daran, jedes Jahr zu tragen, was ihnen niemand verübeln kann. Aber es macht die Sache eben nicht
einfacher. Ich sehe mich noch heute mit meinen Cousinen barfuss durch die Wälder meiner plattdeutschen Heimat streifen, da die heiße Luft zwischen den Föhren stand und die Zeit
stehenblieb. Das ist unvergesslich. Und es macht mir heute klar, dass die Menschen diese Fähigkeit zum Sehen kultiviert haben, weil sie sonst nicht überlebt hätten. Wir können uns auf
Dinge konzentrieren, die andere gar nicht sehen. Das ist ein hochspannendes Thema, das eigentlich gar nicht in eine Anmerkung passt - so viel gibt es dazu zu sagen. Ich komme im zweiten Band des
Handbuchs noch einmal darauf zurück.
123 Tatsächlich macht das Schlechte auf die Dauer tatsächlich „schlechtes Blut“, das wird Ihnen jeder Arzt bestätigen. Eine relativ neue Forschungsrichtung, die Epigenetik, hat
eindeutig erwiesen, dass negative Gedanken die Genschalter unseres Körpers umlegen. Das heißt: das Schlechte zieht uns wirklich nicht nur psychisch, sondern auch physisch herab. Es
beschert uns Krankheiten, die wir sonst nicht bekommen hätten. Tröstlicherweise funktioniert das Ganze auch anders herum: wer das Pech hat, sich schon die „Plag´“ geholt zu haben, der kann
möglicherweise diesen Schalter wieder umlegen (das wichtigste Buch hierzu stammt aus der Feder des
Freiburger Psychiaters und Neurowissenschaftlers Joachim Bauer: Das Gedächtnis des Körpers. Piper-Verlag 2013).
124 Dass wirklich nur sehr selten über Gutes berichtet wird, stimmt übrigens nicht ganz. Inzwischen bringt sogar eine eher bild-orientierte, großformatige Tagesszeitung einmal
im Jahr, am 24. Dezember nämlich, eine ganze Ausgabe mit lauter guten Nachrichten und das ist etwas, wofür man nach Lage der Dinge schon dankbar sein darf! Am Heiligen Abend liest
zwar ohnehin kaum jemand Zeitung, jedenfalls niemand, der noch einen Baum zu schmücken oder einen Rotkohl zu besorgen und kleinzuschnippeln hat, bevor es richtig Weihnachten werden kann. Und doch
muss an dieser Stelle eingeräumt werden, dass die Bild-Zeitung zu den wenigen Printmedien gehört, die auch schon mal etwas Öl auf unsere wundgescheuerten Seelen gießen und die Stelle
nachher mit einem nachrichtentechnischen Trostpflaster zukleben. Und das ist immerhin etwas. Die traurige Wahrheit ist nämlich: es gibt im Nachrichtengewerbe ein Gesetz, das ganz
offensichtlich in jeder Redaktion in Stein gemeißelt an irgendeiner Wand hängt, wo es alle vor Augen haben: nur eine “schlechte Nachricht”, steht darauf, “ist eine gute Nachricht”. Wem wir
diesen zynischen Grundsatz zu verdanken haben, wird wohl nie mehr zu ergründen sein - ich stelle mir zuweilen, wenn ich Lust habe mich zu ärgern, einen jener glatzköpfigen Gründerväter vor, einen
rotbewamsten Druckereibesitzer mit gefährlicher Neigung zu Übergewicht, Bluthochdruck, Hämorrhoiden (sowie Tob-, Bläh- und Wassersucht), der irgendwann gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts in
ein zweifellos vorzeitiges Grab gesunken ist. Nur war leider damit nicht dieser fatale Satz aus der Welt, was wieder mal beweist, dass man mit dem, was man vom Stapel lässt, gar nicht vorsichtig
genug sein kann. Ein Wort, ein (Halb-) satz, selbst ein Ausrutscher, selbst ein sprachlicher oder gedanklicher Ausrutscher - und schon verläuft die Weltgeschichte anders, was mich als
Sprachwissenschaftlerin immer wieder verblüfft: das Gute daran ist, dass auch eher mauerblümchenhafte Texte wie “Wir sind das Volk!”, über die jeder Werbefuzzi nur gelacht hätte, plötzlich
ungeahnte Kräfte entwickeln können, obwohl es gerade eine rechtsradikale Bewegung gibt, die sich den Slogan unter den Nagel gerissen hat. Und das ist ziemlich traurig.
Doch um noch einmal auf die “Guten Nachrichten” zurückzukommen: ich würde mir mehr als alles andere wünschen, dass jede Tageszeitung täglich eine Seite mit lauter guten Dingen bringt,
statt wie bisher nur im Feuilleton. Was wir brauchen, sind tägliche Meldungen über inspirierende Schul- oder Forschungsprojekte zum Beispiel oder Reportagen über emotional und sozial
intelligente Menschen. Ich würde mich sofort freiwillig melden und - unentgeltlich wohlgemerkt - Beiträge einsenden, die vielleicht nicht ganz wahr, aber zumindest gut erfunden sind. Für
Recherchearbeiten ist in meinem Arbeitsalltag nämlich leider keine Zeit mehr, aber Geschichten erzähle ich immer gern!
125 Dieser höchst persönliche Eindruck ist übrigens nur eine Intuition, die ich bislang noch nirgends in der einschlägigen Fachliteratur zu diesem Thema gefunden habe. Sie ist nicht
einmal eine Hypothese. Und doch glaube ich, würde man über ein entsprechendes Experiment untersuchen, ob eher das Beispiel des Bösen befolgt oder das des Guten, so käme man darauf, dass es gegen
alles Unmoralische, Ungerechte in uns einen Blindwiderstand gibt wie in linearen Netzwerken mit Wechselstrom und Wechselspannung. Dieser Blindwiderstand, dessen Pendant man in der
Psychologie auch als Reaktanz bezeichnet, verhindert, dass wir auf die dunkle Seite überwechseln. Und dass kein normaler Mensch einen Film sehen (oder ein Buch lesen) will, in dem wirklich das
Böse siegt. Meines Wissens spielt nur bloß der Holländer Christoph Koch in seinen abgründigen Romanen mit derlei offenen Ausgängen - und sie sind, brrr, so verstörend, das der Geist sie des
Nächtens gar nicht mehr ad acta legt. Auch unsere Ingrid Noll ist in der Hinsicht nicht ohne und vielleicht haben solche Schauergeschichten ja auch etwas eigenartig Faszinierendes, wenn man sich
in der relativen Sicherheit seines Lesesessels befindet. Ansonsten ist aber alles Erzählen seit Anbeginn der Welt im Grunde von einem Bedürfnis nach einem glücklichen, wenigstens aber einen
geordneten Ende geprägt. Von Homer angefangen über Shakespeare bis hin zu den Filmproduzenten von heute, die sich auch bei James Bond, Star Wars und Ice Age was gedacht haben.
Sie wissen, dass es diesen Blindwiderstand des Publikums gegen alles Antisoziale gibt. Ist nicht dieses Tabu allein schon Beweis genug für die grundsätzliche soziale Disposition des
Menschen?
126 Wenn man sich ein Wort wie „Risikofreude“ genauer bekuckt, kommt man leicht darauf, dass Sprache oft als sehr wirkungsvolles Herrschaftsinstrument
missbraucht wird, über das wir alle manipuliert werden sollen. Täusche ich mich, oder verursachen gerade die risikofreudigen Hasardeure nicht geringe Kosten, die wir dann zu tragen haben. Warum
können Autobahnraser, Extremsportler und Börsenfuzzis die Kosten, die sie irgendwann unweigerlich verursachen, auf die Allgemeinheit abwälzen? Aber nein, sie sind ja bloß
risikofreudig. Solche Wörter legen Meinungen fest. Wenn man Altruisten gern ein Helfer-Syndrom attestiert, geschieht etwas ganz ähnliches: der Altruist ist eigentlich ein Fall für die
Klapse, besagt diese Wortschöpfung, die zweifellos auf das Konto der Kreativen geht, die uns auch den Workoholic und den Harmoniesüchtigen verkauft haben. Man weiß inzwischen man ja, dass
sich die Neidhammel es immer und zu allen Zeiten auf die Kunst verstanden haben, etwas Gutes schlecht zu machen - mit so genialen Wortschöpfungen wie Co-Abhängigkeit oder Workaholismus
haben sie es auch hingekriegt. Jeder, der zwei und zwei zusammenzählen kann, merkt die Absicht und ist verstimmt. Was, bitte, soll daran schlimm sein, das zu lieben, was man tut? Und wieso ist
der, der anderen hilft, neuerdings therapiebedürftig? Hinter solchen schon ziemlich perfiden Argumenten steckt nur die Missgunst fauler Säcke, wie man unschwer erkennt, wenn man sich ansieht, wer
solchen Unsinn in Umlauf bringt. Diese ziemlich hanebüchene Diffamierung von Menschen, die sich selbst treu bleiben, ist leicht zu durchschauen.
127 So benannt nach David Dunning und Justin Kruger, die diese kognitive Verzerrung vor einigen Jahren (1999) in einem populärwissenschaftlichen Kontext beschrieben. Der Begriff
bezeichnet die sehr verbreitete Neigung selbstbewusster Menschen, die eigene Leistung zu überschätzen, während man gleichzeitig die der anderen unterschätzt. Von uns aus kann natürlich kann jeder
denken, was er will. Das Problem bei dieser Art von gestörter Selbstwahrnehmung ist allerdings, dass gerade die an hypertrophem Selbstbewusstsein Leidenden sich in Entscheidungspositionen
bewegen, in denen diese Haltung Innovation verhindert: „Wenn jemand inkompetent ist, dann kann er nicht wissen, dass er inkompetent ist (…) Die Fähigkeiten, die man braucht, um eine richtige
Lösung zu finden, sind genau jene Fähigkeiten, die man braucht, um eine Lösung als richtig zu erkennen.“ (David Dunning)
Diesen Dunning-Krüger-Effekt kannten wir schon als Kinder, wie der folgende Zungenbrecher nahelegt: „Wer nichts weiß und nicht weiß, dass er nichts weiß, weiß noch weniger als der, der nichts
weiß, aber weiß, dass er nichts weiß.“
128 Forschungsergebnisse wie diese bringen mich zuweilen auf den Gedanken, dass ein guter Teil dessen, was uns gerade zu schaffen macht, letztlich dem verflixten Testosteron zu
verdanken ist. Aber das ist auch eine sehr private und vielleicht nicht gerade objektive Meinung, die ich seit 1914 vertrete, wenn nicht sogar schon länger. Als die ersten Hochkulturen
entstanden, hatten zunächst fast überall die Mütter das Sagen, vom Zweistromland angefangen, über Ägypten, Kreta, Malta (was ihre heutigen Bewohner übrigens gern unter den Teppich kehren)
etc.etc.pp. Diese frauendominierten Kulturen schufen florierende, friedliche Staatsgebilde, in denen Milch und Honig flossen. Aber sie weckten stets die Begehrlichkeiten von eher
testosteronhaltigen Nomaden, die die mangelnde Wehrhaftigkeit dieser Matriarchate ausnutzten. Haben Sie sich je gefragt, warum in Ägypten die Pharaonen ihre Schwestern heirateten?
Weil, wie Barbara Walker in ihrem vielbeachteten Standardwerk dazu schreibt, in diesen alten Matriarchaten die ältesten Töchter die Erbinnen waren - all das kann, wer mag, in ihrem
tausend Seiten umfassenden Werk Das geheime Wissen der Frauen / The Women´s Encyclopedia of Myths and Secrets. (London: Harper Collins 2010) nachlesen. Zwölfhundert Seiten, die Sie auf
ebenso viele Ideen bringen werden.
129 Jüngeren Lesern werden sie wahrscheinlich nicht mehr geläufig sein, die haarsträubenden Abenteuer des Bolle, der auf seinen Ausflügen in die Großstadt in so manch lustige Klemme
gerät. Besungen wird besagter Bolle in einer Volksweise, deren Text in der Mundorgel zu finden ist, einer klassischen Liedersammlung, die in jeder anständigen Buchhandlung vorrätig
ist.
130 Vielleicht ist das auch der Grund, warum sich in unserem Kaffeehaus die „iPotts“ größter Beliebtheit erfreuen, lustige Kaffee- bzw. Teepötte, die man auf vielfachen Wunsch
inzwischen dort auch kaufen kann. (Ich besitze seit kurzem auch einen. Als nämlich mein schöner, ehrwürdiger mit Strohblumendekor verzierter „Klön-Pott“ zu Bruch gegangen ist, hat mir
ein mitfühlendes Wesen diese Tasse verehrt. Aber es ist nicht ganz dasselbe: ich bin als Norddeutsche hier am See gelegentlichen Anfällen von Heimweh ausgesetzt und dagegen hilft eine Tasse
Bünting-Tee zuverlässig. Aber eben am ehesten aus einem richtigen Koppchen. Doch das sei hier nur so nebenher erwähnt.
131 Dafür spricht tatsächlich so einiges! Der öffentliche Verkehr zeichnet sich inzwischen durch ziemliche Ruppigkeit aus, das ist leider wahr. Vor allem auf der Autobahn scheint das Gesetz des
Stärkeren zu herrschen und wer viel unterwegs ist, sieht sich des öfteren in Situationen, die auch mal leicht ins Auge gehen könnten. Und in den letzten Jahren ist das auch noch ärger geworden -
den Eindruck hab zumindest ich. Das liegt aber vielleicht nur daran, dass ich hier in Lindau lebe - sobald ich die A96 nach Norden nehme, hängen mir sofort jede Menge Auto mit Schweizer
Kennzeichen an der Stoßstange. So sehr ich unsere Nachbarn als Menschen und als Produzenten der weltbesten Schokolade schätze - als Autofahrer sind viele von ihnen nur mit allergrößter Vorsicht
zu genießen, jedenfalls in dieser Weltgegend. Denn gleich nach der Grenze müssen sie allen erstmal zeigen, wie viel Pferdestärken sie unter der Haube haben. Ich sage Ihnen, die Eidgenossen
drücken hier auf die Tube, dass einem Angst und Bange wird. Vielleicht sind gerade wegen der fehlenden Geschwindigkeitsbeschränkungen auf unseren Autobahnen die Deutschen manchmal etwas
unentspannt. Fahren Sie in Kanada und Sie fühlen sich so sicher wie in Abrahams Schoß.
133 Dieser Zusammenhang ist so subtil, dass ich darauf natürlich nicht selber gekommen sein kann. Ich verdanke diese Überlegung einem der kenntnisreichsten Bücher, die ich in den letzten Jahren
gelesen habe: Peter Watsons Ideen, einem knapp zwölfhundert Seiten starken Werk, in dem der Autor nachzuvollziehen versucht, was wann und vor allem warum erfunden bzw. entwickelt wurde. Dem
leider anonymen Kunden, der mir den Titel im Gespräch empfahl, bin ich noch heute zutiefst für den Hinweis dankbar - vielleicht liest er ja diese Zeilen, was mich ungemein freuen würde. Für
das Buch braucht man, wenn man nebenher den fabelhaften bibliographischen Hinweisen nachgeht, gut und gern ein halbes Jahr, es lässt sich aber auch ohne weiteres auf ein volles Jahr ausdehnen,
sogar auch zwei. Dieser Watson, glauben Sie mir, ist so genial wie faszinierend. Besser als in ein solches Wunderwerk kann man sein Geld gar nicht anlegen. Da sieht man mal, was
man für ganze achtzehn Euro in jeder Buchhandlung erwerben kann. Um den Preis gibt es hier inzwischen nicht einmal mehr einen anständigen Zwiebelrostbraten. Das ist eines der
schwäbischen Traditionsgerichte, die sich in dieser schönen Ecke unseres Landes großer Beliebtheit erfreuen - aber er ist eben nicht unter achtzehn Euro zu haben, der gegenwärtige
durchschnittliche Kurs dürfte bei etwa zweiundzwanzig bis vierundzwanzig Euro liegen, was für ein Mittagessen in einer Kneipe, zu dem dann noch die Getränke kommen, schon ein ganz
schöner Batzen ist. Da sagt man immer Bücher seien teuer - Bücher sind nie teuer! Wenn Sie sich das nächste Mal überlegen, ob zehn oder fünfzehn Euro nicht doch zuviel sind für ein Bilderbuch
oder einen schönen Roman - denken Sie immer an diesen Zwiebelrostbraten. Oder von mir aus auch an ein Filetsteak. Oder einen Sauerbraten mit Rotkohl und ich-weiß-nicht-was. Was hat
man im Vergleich dazu an einem Buch? Es wärmt uns noch nach Monaten an kalten Winterabenden, nährt unseren darbenden Geist und es tröstet uns darüber hinweg, wenn die Unseren gerade nicht
da sind. Außerdem lenkt es uns aufs angenehmste von dem ab, was uns gerade herunterzuziehen droht: üble Nachrichten zum Beispiel, die unser Gefühl von Rat- und Hilflosigkeit bloß verstärken
usw. usw. Lesen ist tatsächlich das einzig Wahre. Man muss bloß ein wenig aufpassen, dass man der Welt nicht vollends verloren geht.
134 Bewegliche Lettern wären auch noch gut gewesen, aber ich bin sicher, dass einer wie Gutenberg das mit ganz ähnlichem Ergebnis auch aus Holz hingekriegt hätte. Ganz ohne Bücher wär´s
freilich schon sehr zäh hienieden.
135 Dieser Begriff wurde auch von Daniel Kahneman und seinem Kollegen Amos Tversky geschaffen. Mathematisch Interessierte werden die damit verbundenen hochkomplizierten Rechenexempel
lieben! Der Basisratenfehler bezieht sich auf Konstanten der Wahrscheinlichkeitsrechnung, für die uns Menschen - ebenso wie für andere komplexe mathematische Vorgänge - alle Intuition
fehlt. So unterläuft auch logisch denkenden Menschen oft ein Rechen- oder eben Prävalenzfehler wie der, von dem in folgender Geschichte die Rede ist: Auf dem Nachhauseweg trifft eines
Nachts ein freundlicher Mensch auf einen anderen, der im Schein einer Straßenlaterne seine Armbanduhr sucht. Nachdem er ihm eine Weile dabei geholfen hat, fragt er ihn, ob er denn sicher sei, die
Uhr hier und nicht anderswo verloren zu haben. Woraufhin der Befragte antwortet: „Ich schätze schon, dass ich sie anderswo verloren habe, aber hier kann ich wenigstens was sehen!“ Das bloße
Vorhandensein von ein paar zufällig gewonnenen Daten bedeutet nicht, dass die Wahrheit nicht ganz anderswo liegt. Eine von Egoisten berichtende Geschichtsschreibung ist kein Beweis dafür, dass
alles im Schatten derselben Geschichte Stattfindende auch von Egoismus charakterisiert ist. Wie entstehen bloß derlei schiefe Geschichtsbilder? Darüber denke ich immer dann nach, wenn mich wieder
einmal jemand als „hoffnungslosen Optimisten“ bezeichnet und mir mit Informationen über die unwiderlegbar selbstsüchtige Natur des Menschen kommt, mit Darwin & Co. und dem vielzitierten
Willen zur Macht. Es fängt doch schon damit an, dass man uns so gut wie alle Vorgeschichte unterschlägt! Unsere Geschichtsbücher setzen erst bei Hammurabi und Kollegen ein. Was
vermittelt man uns eigentlich über die Zeit, bevor Alexander der Grosse im Fluss ertrank? Was wissen wir über die ganz frühen Hochkulturen, die erwiesenermaßen noch älter sind als die
babylonischen? Was erzählt man uns über Malta? Hier finden sich die ältesten Hochbauten der Menschheitsgeschichte (aus der Zeit um 5000 vor Christus), in den Geschichtsbüchern kommt Malta aber
nicht vor. Gar nicht. Erst später, im Zusammenhang mit den Kreuzrittern und dem nach ihnen benannten Hilfsdiensten. Ich sage das bloß mal so als Beispiel. Warum erweckt man auch heute noch in
Museen für Vor- und Frühgeschichte überall auf dem Globus den Eindruck, dass unsere steinzeitlichen Vorfahren aus Kleinfamilien bestanden: aus Papa, Mama (die die Höhle fegt) und den lieben
Kinderlein, in der Regel zweien an der Zahl. Liegt das vielleicht daran, dass die Museen im Zuge des allgemeinen Sparzwangs immer bloß Geld für ein paar Puppen genehmigt kriegen? Sodass die
Clans, die bis auf wenige Ausnahmen die menschliche Entwicklungsgeschichte prägen, gar nicht dargestellt werden können. Dadurch entsteht ein völlig verzerrtes Geschichtsbild, sapperlot!
Tatsache ist, dass fast überall die Männer unter sich blieben und gemeinsam jagten (und nachher auf dem Bärenfell lagen und höchstens noch an ihren Pfeilen herumschnitzten), während die
Frauen alle miteinander nicht nur auf die Kinder aufpassten, sondern auch sammelten, was das Zeug hielt. Die völlig unterschiedlichen Arbeitsstile, die die Geschlechter seit jeher haben, sind
genug Beweis für diese These. Frauen haben flache Hierarchien, Männer völlig andere, fast vertikale, die jeder Frau mit einem normalen Hormonhaushalt den Vogel raushauen würde. Umgekehrt m.m.
dito, klar. Zweihunderttausend Jahre lang hat das alles trotzdem gut geklappt. Bis uns ein paar Sozialdarwinisten mitteilten, dass der Mensch schlecht ist, wie „die Geschichte“ beweist - aber das
ist eben, wie wir es als Kinder nannten, ein typischer Fall von „Denkste“. Wäre ich jetzt Mathematiker, könnte ich die Base-Rate sogar quantifizieren. Der Base-Rate-Denkfehler ( im
deutschen Sprachraum eher als Prävalenz-Fehler bezeichnet) wird vor allem sich auf die sehr eingeschränkte Fähigkeit des homo sapiens angewendet, wenn es um die Einschätzung von
statistischen Zusammenhängen geht. Dazu gibt es ein höchst interessantes Buch, das aber nur wirklich mathematisch Versierte glücklich machen wird: Der Hund, der Eier legt von Hans-Peter
Beck-Bornholdt und Hans-Hermann Dubben (Reinbek: Rowohlt 2001 ). Es ist genial, sehr, sehr witzig - enthält aber so viele Formeln, dass die Lektüre bei Matheunverträglichkeit zu
spontanen Kopfschmerzen und sogar Schwindelanfällen führen kann. Hier ist also dingend Vorsicht geboten. Für Käpsele aber: top! ( Käpsele nennt man im Schwäbischen respektvoll eine
hochintelligente Person; kommt von lat. caput für Kopf.)
136 vergl. Kooperative Intelligenz. Das Erfolgsgeheimnis der Evolution von Martin A. Novak und Roger Highfield. (München: C.H.Beck-Verlag 2013). Diesem Buch verdanke
ich auch die Beobachtungen zum Bookworm-Projekt, von dem in den im nächsten Handbuch die Rede sein wird.
137 Wer mehr darüber wissen will, dem sei u.v.a. Sorry, das waren die Hormone! des Arztes und Medizinkabarettisten Ronny Terkal empfohlen, der eine ziemlich unnachahmliche,
geistreiche Art hat, komplexe Zusammenhänge so darzustellen, dass jeder mitkommt. (Zürich: Orell-Füssli Verlag, 2013).
137 Ich stelle mir zwar gerade vor, dass das so leicht auch wieder nicht ist, mit der Gitarre würde es in so einer Röhre ziemlich eng. Vielleicht könnte man es mit
einer Ukulele probieren, oder notfalls einer Pikkoloflöte, obwohl dann immer noch das Problem bliebe, dass man eine zweischläfrige Röhre bräuchte, so ein Kingsize-Teil, weil diese guten Gefühle
ja erst dann entstehen, wenn wir in Beziehung zu unserem Nebenmenschen treten. Meines Wissens ist so etwas noch nicht entwickelt, aber man ist ja fix auf dem Gebiet, sodass man innerhalb der
nächsten Jahre damit rechnen kann, dass Tausende von Sprichwörtern und Weisheiten, in denen die Menschheit intuitiv die Erinnerung an das goldene Zeitalter aufbewahrt hat, wissenschaftlich
bestätigt werden können.
138 Wie Aggression wirklich entsteht, darüber kann der interessierte Leser alles in Joachim Bauers Buch Schmerz erfahren: Aggression ist nichts weiter als die Reaktion auf Ausgrenzung
und Ungerechtigkeit, die unserer Psyche einen ganz ähnlichen, sogar messbaren Schmerz zufügt wie eine physische Versehrtheit. Der homo sapiens ist nicht von Haus aus aggressiv - wäre er´s,
so hätte er schon tausendfach die Möglichkeit gehabt, dem Rest der Menschheit den Garaus zu machen. Wir sind, ganz im Gegenteil, von Haus aus kooperativ. Unfaire Verhältnisse führen in der Regel
aber zu blindwütigen Reaktionen. Deswegen sind Gerechtigkeit und (sozialer) Frieden eng miteinander verbunden. Die Idee der Gleichheit gehört ebenso in diesen Bezugsrahmen. Über die égalité
der Französischen Revolution ist viel geschrieben worden, auch viel Unsinniges. Niemand behauptet, dass wir Menschen gleich sind. Der égalité geht es vielmehr um Gleichbehandlung, die jede
Gesellschaft ganz leicht gewähren könnte, wenn sie nur wollte. In jeder kleinen, funktionierenden Gemeinde ist heute noch zu beobachten, wie sich gedeihliches Zusammenleben entwickelt: auf
dem Dorf wird auch der Dorfdepp anständig behandelt und der Umgang mit der Allmende geregelt. Dieses eigentlich geniale System ist aber durch eine Erfindung durcheinandergekommen, die
Mutter Natur unmöglich voraussehen konnte: die des Geldes nämlich. Das Geld hat neue, unnatürliche Hierarchien geschaffen, in denen skrupellose Elemente nach oben gespült werden, die
„Mindernickel“ nämlich, um einen der sprechenden Namen aus dem Werk Thomas Manns zu verwenden: die Verschlagenen, die Trickster, wie Jung sie nennt, sind damit gemeint. Die Natur hingegen
hat eigentlich die Meritokratie in uns angelegt. Darin steckt das lateinische Wort für Verdienst ( nicht den Verdienst, sondern das Verdienst übrigens, was selbst unsere Volksvertreter gern
verwechseln): die Tüchtigsten, Klügsten, Verdienstvollsten ( und nicht die Meistverdienenden wohlgemerkt) sollten eigentlich das Sagen haben und wenn ´s nach Mutter Natur gegangen
wäre, wär´s dabei auch geblieben. Doch dann kam der Teufel (griech. diabolos, wörtlich eigentlich der Durcheinanderwerfer) - und brachte das Metall: die Waffen, die Spiegel, das Geld
und das Chaos.
139 Die meisten unserer Kunden räumen ihre Bücher hinterher sogar wieder auf, das stelle man sich einmal vor! Mit einer signifikanten Ausnahme allerdings: die Kunden, die Bücher
übers Aufräumen und Ordnungmachen aus dem Regal ziehen ( vor allem den sehr empfehlenswerten Titel Nie wieder Chaos! von Dorling Kindersley) lassen diese Bücher wirklich überall dort
herumflacken, wo sie gerade sind: am Kaffeetisch im ersten Stock, im Wintergarten zwischen all den Musik-Titeln, gerne auch auf der Kundentoilette. Es ist ein echtes Phänomen. Nur die Chaoten
wissen nicht, was sich gehört. Alle anderen sind zauberhaft.
140 Echte Materialisten kriegen von derlei paradoxen Aussagen sofort Kopfschmerzen. Daran sind sie überhaupt leicht zu erkennen. Aber es gibt noch ein paar mehr Methoden, die im
zweiten Band des Clubs vorgestellt werden, der Ihnen u.v.a. eine Art Lackmus-Test vorstellt, mit dem man Idealisten und Materialisten ganz leicht voneinander unterscheiden kann: man lasse
die Testpersonen ganz einfach ein paar Begriffe definieren - Armut zum Beispiel bzw. Reichtum und Glück sind die Klassiker, aber auch Leistung, Lebensqualität, Vergnügen und vor allem -
Leidenschaft werden Materialisten völlig andres definieren als unsereins. Mit diesem Lackmustest ( wie ich ihn nenne) haben Sie im Handumdrehen heraus, wer zu welchem Lager
gehört.
141 Gleiches gilt m.m. für Verlage: So wird zum Beispiel ein von mir sehr geschätztes kleines Verlagshaus, das jahrelang die engagiertesten zeitkritischen Bücher veröffentlicht hat,
inzwischen von einem „Fachmann“ geleitet, der aus der Bastelbuchecke kommt. Weswegen er schon den Hobel angesetzt hat und nur noch Bücher produziert, die man senkrecht unter der Tür
durchschieben kann. Wieder ein Hoffnungsträger weniger.
142 Elizabeth von Arnim: Verzauberter April. (Frankfurt: Insel 2010). Hinreißendes Buch, ein Fast-schon-Klassiker aus den frühen Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, den man
eigentlich jeden April lesen kann, ohne dass es einem dabei langweilig wird. Elizabeth von Arnim erzählt darin Geschichte von vier sehr urlaubsreifen Damen, die dem verregneten London entfliehen
und für einen Monat ein Schlösschen in Italien mieten, was die erstaunlichsten Folgen für alle mehr oder weniger Beteiligten hat. Sogar noch für die daheimgebliebenen Langweiler von
Ehemännern.
143 Der bloße Gedanke an diese überflüssigen Plastikteile sorgt übrigens in jedem schwäbischen Haushalt für spontane Heiterkeitsausbrüche. Denn hierzulande
wird jedes schwäbische Kind, sobald es Mama und Papa voneinander unterscheiden kann, in die Zubereitung dieser Köstlichkeit eingewiesen, das heißt hier schüttelt man sich diese ebenso fabel- wie
nahrhaften Spatzen nur so aus dem Ärmel. Was man damit alles machen kann, lässt sich hier nicht einmal ansatzweise darstellen - die Möglichkeiten sind schier unbegrenzt. Ein herrliches
Alltagsessen sind vor allem Spätzle mit Linsen und „Saitewurscht“ (Wienerle also), was jetzt vielleicht nicht besonders spannend klingt, aber glauben Sie mir, es ist köstlich und gibt einem
Energie für den Rest des Tages. Ich habe ohnehin den Verdacht, dass die oft beobachtete, außergewöhnliche Tüchtigkeit der Schwaben zu einem vielleicht sogar entscheidenden Teil auf ihre einfache,
bodenständige Küche zurückgeht, auf die - stets natürlich hausgemachten - Maultaschen, die Flädle und die wunderbaren Schupfnudeln. Wer so etwas isst, kann auch richtig denken.
Ist es Zufall, dass Einsteins Lieblingsgericht Kässpätzle waren? Er ist bekanntlich in Ulm geboren, wenn auch nicht aufgewachsen, aber diesen Kässpatzen ist vielleicht eine Besonderheit zu
verdanken, die Einsteins Gehirn auszeichnet. Als man es untersuchte, fiel auf, dass die aus Fett bestehenden Myelin-Hüllen der Synapsen in seinem Hirnkäschtle
überdurchschnittlich gut ausgebildet waren, was die neuronale Leitfähigkeit entscheidend beeinflusst haben dürfte. Tatsächlich scheint Fett das Hirn zu tunen, worauf schon die alte Weisheit
„Wer gut schmert, der gut fährt“ hinweist. Diese höchst bemerkenswerten Zusammenhänge - die als erwiesen gelten - sollten zu denken geben. Sicher ist jedenfalls, dass alles
Low-Fat-und-Low-Carb-Geschwafel des Mainstream zu den allseits bekannten und beliebten Diät-Hysterien führt. Irgendwann, spätestens Anfang vierzig, wenn das im Zusammenhang mit
Familienplanung übliche Gefrette endlich mal vorbei ist, muss man einfach entscheiden: will ich in den nächsten Jahrzehnten wirklich weder Käse noch Eier noch Butter geschweige denn
Sahnetorte essen, um möglichst sexy auszusehen oder schließe ich ganz einfach Frieden mit meiner gegenwärtigen, eher gemütlichen Konfektionsgröße? Kluge Leute tun das schon. Sie entziehen
sich dem mainstreamigen Fitness-Kult und scheinen mir wesentlich gelassener als die gläubigen, oft sogar fanatischen Anhänger dieser neuen Ersatzreligion, oder täusche ich mich da? Diese
Sportgehabe ist inzwischen so verbreitet, dass man schon ein schlechtes Gewissen kriegt, wer sich nicht jede freie Minute irgendwelchen mehr oder weniger sinnvollen Leibesübungen unterzieht
( Wie habe ich in der Schule schon dieses Wort gehasst: Leibesübungen! Es hat sich ohnehin immer in beunruhigender lexikalischer Nähe von Leibesvisitation befunden und Leibwäsche, ach du
grüne Neune! Da ist auch der Schlüpfer nicht weit und die Turnhose, die im Verein mit schikanösen Aufgaben wie Bockspringen, Weitsprung, Hundertmeterlauf und anderen erniedrigenden
Peinlichkeiten schon lebenslange Traumata ausgelöst haben - darüber sollte endlich mal einer schreiben und nicht immer nur über die Eltern, die einen angeblich verkorkst haben. Aber nein - schon
in der Schule fängt es damit an, dass uns Sportlehrer erklären, worauf es im Leben ankommt und gerade introvertierten Menschen so richtig reindrücken, dass sie Nullen sind. Schon in der Schule
beginnt die Gleichschaltung und so manch einer erholt sich sein Leben lang nicht mehr davon. Für Sportlehrer sollte es - ebenso wie für Wirtschaftswissenschaftler übrigens - einen dieser
Wesenstests geben, wie man sie inzwischen für Nutz- und Kampfhunde verlangt: wer da als sadistisch durchfällt, sollte nicht das Recht erhalten, unschuldigen Kindern die Biographie zu
versauen! Kleinen, leicht zu beeindruckenden Mädchen vor allem, die eigentlich viel lieber zu Hause Fünf Freunde lesen würden oder Heidi oder sonst irgendetwas Wichtiges, was man wirklich braucht
im Leben. Ganz ehrlich: ein bisschen Gummitwist und im Wald Buden bauen hätte uns zur Körperertüchtigung - das ist auch so ein Wort! - damals vollauf gereicht. Heute gäbe ich was darum,
wenn ich darauf schon viel früher gekommen wäre! Was hätte man sich da alles sparen können! Gäbe es eine wissenschaftliche Methode um zu ermitteln, wie viele Menschen pausenlos auf Diät sind, man
käme auf ziemlich erschütternde Zahlen und volkswirtschaftlich Vorverbildete könnten auch ganz leicht die Opportunitätskosten dafür ausrechnen. Wie hoch, schätzen Sie, ist wohl die
Dunkelziffer der ganz Linientreuen, die selbst noch im Abendtäschchen eine Pillendose mit Süßstoff dabei haben? Wie soll man da denken können? Was soll aus dem Globus werden, wenn alles Zyklamat
einwirft, keiner mehr richtig frühstückt und ordentlich Haferflocken isst? Haben Sie sich jemals gefragt, wieso die Engländer die Dampfmaschine erfunden und den Autoreifen ( obwohl Herr
Dunlop genau genommen Schotte war), sowie eine ganze Reihe anderer ziemlich praktischer Dinge? Die Engländer sind, ganz klar, wegen ihres Porridge so kreativ ebenso wie die Schweizer
ob ihres Birchermüslis, das sich dort ungebrochener Beliebtheit erfreut. Der Hauptbestandteil von beiden ist nämlich Hafer. Und Hafer wirkt nicht nur auf Pferde belebend, wie die Redensart
„den sticht der Hafer“ eindrücklich belegt. Hafer ist das Getreide, das den grauen Zellen Beine macht (und uns außerdem mit einer sehr kostbaren Substanz versorgt, dem Tryptophan nämlich -
daraus bastelt sich das Hirn dann das allseits bekannte Serotonin.)
Ich singe das Loblied auf den Hafer übrigens nicht nur, weil ich aus einer ganz, ganz alten Familie von „Möllern“ stamme, die im wesentlichen Hafer zu Grütze verarbeiteten. Ich glaube wirklich,
dass man richtig essen muss, um richtig denken zu können (wie Virginia Woolfe einst sagte). Wer hingegen davon überzeugt ist, dass er im wesentlichen Muskeln braucht und einen
knackigen Po, darf sich ruhig weiter von Salat und meterdicken Tournedosteaks ernähren. Aber er halte sich gefälligst geschlossen und rechne uns nicht ständig voller
Selbstgefälligkeit aus, dass dieses verdammte Steak nur soundsoundviele Kalorien hat und der Salat auch bloß dreihundert. Er soll uns, die Kreativen, in Frieden das essen lassen, was
gedankliche Höhenflüge befördert und dazu gehört garantiert kein Fleisch und überhaupt nichts, was Ammoniak enthält. Essen wir einfach, was unser Gefühl uns sagt - und nicht, was das Apotheken-
oder Reformhausblättchen uns empfiehlt. Glaubt mir, Leute, die Revolution beginnt in der Küche! Hier kann jeder dem Mainstream so richtig eins auswischen. Bringt Euch am besten gegenseitig
bei, wie man Kässpätzle macht, (es ist wirklich ganz leicht und wir schicken Euch auch gern das Rezept und eine Bezugsquelle für ein Spätzlesieb). Und wenn ihr´s drauf
habt, ladet ihr jede Menge Leute dazu ein, die ganz ähnlich denken wie Ihr und wartet einfach ab, was dann passiert. Subversive Spätzle-Treffen, das wär´s doch! Damit könnte man
(jedenfalls hier im Süden) eine Lawine lostreten! „Wer sich wehrt, beginnt am besten am Herd„, könnte man texten - in Anlehnung an das griffige „Wer sich nicht wehrt, landet am Herd“
aus den seligen Zeiten der Emanzipationsbewegung. Tatsächlich beginnt die Zukunft genau hier: das griechische oikos - von dem unsere Ökonomie abgeleitet ist - bedeutet ursprünglich genau das:
Herd nämlich. Er ist das Zentrum des Hauses, das Herz. Hier trifft sich die Familie, hier wird gekocht, gegessen, gelebt, gelacht, gedacht. Und hier verliebt sich auch alles gleich in den
Koch/ die Köchin. Deswegen braucht, wer ordentlich kochen kann, auch keine „Partnerbörse“ - wieso lassen wir es überhaupt zu, dass diese Börsen offensichtlich unsere Beziehungsstile
zu verändern beginnen? Was hat das Wort Börse ( das, Sie erinnern sich vielleicht, von Geldsack abgeleitet ist ) überhaupt mit Gefühlen zu tun? Und die Ware Liebe mit wahrer
Liebe?
Eine in Kanada lebende Freundin von mir, die jahrelang glaubte, die große Liebe im Internet zu finden, gab schließlich ziemlich entnervt auf: vor allem die Jungs seien im Netz unterwegs
„like kids in a candystore“. Widerstand gegen ein alles zur Ware machendes System kann auch hier beginnen: „Kocht, Leute, was das Zeug hält“, rät sie inzwischen in dem erschütternden Buch,
das sie darüber geschrieben hat. „Kocht und ladet Freunde und deren Freunde ein - und wartet ab, was passiert. Die Liebe ist analog. Nicht digital.“
144 Ich habe lange in Rothenburg ob der Tauber gelebt und gearbeitet, wo es einen sehr geschickten Geschäftsmann gab, der mit seinen Weihnachtsläden großen Erfolg hatte. Nach der
Wende verlegte er einen Teil seiner Produktion nach China. Es geht die Sage, dass in seinem Zentrallager dann erst einmal die Schlitzaugen der Engelchen in runde umgemalt werden mussten, was die
Familie W. aber vehement in Abrede stellte. Hätte ich an ihrer Stelle wahrscheinlich auch so gemacht. Ich stelle mir gerade vor, wie weit man von Sinngebenden in seinem Leben entfernt sein muss,
um sich mit derart banalen Problemen auseinanderzusetzen und unschuldigen Engelchen Kulleraugen statt Schlitzaugen hinzumalen, statt die Dinge gleich da herstellen zu lassen, wo sie
herkommen. Aber das war dem Herrn W. natürlich nach der Wende zu teuer. Er lebt inzwischen auch nicht mehr unter den Weilenden (wie unsere wunderbare Mutter es einst ausdrückte.)
145 Ehre ist überhaupt einer von den Begriffen, mit denen ein typischer Materialist gar nichts anfangen kann. Denn Leute, die „noch Ehre im Leib haben“, tun, was sie tun, nach
allen Regeln der Kunst, comme il faut, wie die Franzosen es nennen: wie es sich gehört. Bezeichnenderweise benutzen sie dieses comme il faut auch in der Bedeutung von anständig. Comme
il faut zu sein gilt bei unseren Nachbarn als höchstes Lob. Von den Franzosen könnte der Rest der Welt ohnehin so einiges lernen - wie man zum Beispiel am Wochenende eine Revolution
anzettelt und die Großkopfeten aufmischt. Die Franzosen lassen nicht so viel auf sich sitzen wie wir. Sie deponieren auch schon mal fünfzig bis einhundert Fuhren Mist vorm Europäischen Parlament
in Strassburg. Oder sie verwandeln (s.o.) ihren Käse in handliche Wurfgeschosse. So muss man´s machen. Was meinen Sie, wie schnell solche Aktionen wirken! In Deutschland ist das leider
alles ein bisschen anders: da müssen Revolutionen vorher angemeldet werden. Das Rote Kreuz kommt auch. Und bei Regen findet das Ganze im Saale statt.
146 Den Firmennamen nenne ich hier auch ganz bewusst und absichtlich, weil es vielleicht es ein paar Leute gibt, die sie dann auch kaufen. Die im Grunde ganz einfache Idee,
seinen Freunden und Bekannten besonders vorbildliche Produkte zu empfehlen, ist in eingeweihten Kreisen eher idealistisch denkender Menschen inzwischen als carrot-mob bekannt.
Diese ( wohl wegen der belohnenden Karotte so genannte) Aktion ist eine Art von Mundpropaganda für besonders nachhaltige wirtschaftende Unternehmer, die man so unterstützt, auf dass
sie nicht gleich wieder aufgeben müssen. Ich würde mich übrigens auch unglaublich freuen, wenn Sie dieses Büchlein Ihren Freunden und Verwandten ans Herz legten. Nicht weil ich damit Geld
verdienen will. Ich bin ohnehin dabei, meine nicht ganz kleine Firma im Sinne von Christian Felbers Gemeinwohlökonomie in ein Unternehmen zu verwandeln, das nicht auf Gewinn angelegt ist,
sondern auf einen Raum, in dem zurzeit dreißig Menschen stressfrei leben und arbeiten können. Und auf täglich schätzungsweise zweihundert Gäste, die sich bei uns wohl fühlen. Ein Teil des Erlöses
aus dem Buchverkauf geht ohnehin in die Kasse des Clubs der Idealisten, den wir hier gerade gründen. Der eigentliche Grund, weswegen ich - in dieser Fußnote, ganz am Rande also -
bitte, diesem Buch zu helfen, ist: so könnten die Inspirationen, die darin stecken, möglichst viele Menschen erreichen und sie dazu einladen, endlich ihrem Herzen zu folgen und nicht dem, was
angeblich Trend ist. Bitte machen Sie mit und werden Sie auch Mitglied in unserem Club der Idealisten. Eigentlich sind Sie´s durch den Erwerb dieses Buches ja schon. Was ich mir von Herzen,
mehr als alles andere, wünschte, wäre ein Zeitung/ eine Zeitschrift/ in der nur Gutes, Inspirierendes veröffentlicht wird, gern auch etwas im Stil der Huffington Post. Das erinnert mich daran,
dass ich Ihnen Arianna Huffingtons wunderbares Buch Die Neuerfindung der Erfolgs. Weisheit, Staunen, Großzügigkeit - was uns wirklich weiterbringt, noch nicht empfohlen habe ( München: Goldmann
2015). Das sei hiermit nachgeholt. Arianna Huffington scheint, ebenso wie ein paar andere kluge Köpfe, ein feines Gespür für den sich abzeichnenden Wandel zu haben. Und sie hat vor
allem in den Staaten großen Einfluss: vielleicht gelingt es ihr sogar, dass Erfolg demnächst anders definiert wird als noch bis vor kurzem, was die interessantesten Folgen haben
dürfte.
147 „Same, same, but different“ heißt es in Ostasien für jede Art von Kopie oder Knock-off eines europäischen Qualitätsproduktes, die aus zehn Meter Entfernung vielleicht noch
tupferlgleich aussieht, die sich bei näherem Hinsehen aber als Junk oder Trash erweist. Dieser Müll kommt containerweise hier herüber, belastet uns und den Globus, wird aber immer noch
gemacht, weil an den Schaltstellen immer noch ein paar ganz taube Nüsse sitzen, die den Schuss noch nicht gehört haben. Ob wir´s mal mit Zeichensprache versuchen sollen?
148 Zum Thema Baumarkt gäbe es schon noch ein paar einschlägige Bemerkungen zu machen. Sie gehören zu den letzten Reservaten echter Männer (mit Ausnahme der Garten- und der Gardinenabteilungen
vielleicht, wo auch Frauen zugelassen sind). Wäre ich GenderforscherIn, würde ich mir einen gut frequentierten Markt aussuchen, in dem ich mal einen Monat oder auch zweie undercover
arbeitete, notfalls mit angeklebtem Schnurrbart und dann hinterher ein Buch darüber schreiben. Was meinen Sie, was da alles zutage käme! Angeblich werden die Unterschiede
zwischen Männern und Frauen ja sehr überschätzt, ich fürchte aber, dass das Gegenteil der Fall ist. Sie werden immer noch unterschätzt und vielleicht fördert es das gegenseitige
Verständnis, wenn man sich das hin und wieder mal vor Augen führt.
Männer sind anders. Und das ist auch gut so. Es ist Teils des Spaßes, den man miteinander haben kann. Keine Frau von Geschmack und Bildung sollte sie umzuerziehen versuchen, sondern es einfach so
hinnehmen.
So lässt es sich zum Beispiel nicht von der Hand weisen, dass Männer und Frauen grundsätzlich völlig verschiedene Arbeitsstile haben, die auch durchaus sinnvoll sind, die sich aber nur
selten miteinander in Einklang bringen lassen. Männer überlegen sich gern, bevor sie mit einer Arbeit beginnen, wo sie Energie sparen können. Frauen denken darüber eher selten nach: sie
sind, wie unabhängige Studien inzwischen nachweisen konnten, spontaner und sie können besser improvisieren. Frauen kommen leichter auf Notlösungen, die sich dann als erstaunlich langlebig
erweisen. Bekanntlich ist nichts dauerhafter als das Provisorium. Männer sind hingegen auf nachhaltige Lösungen aus, doch das kann, wie die Erfahrung lehrt, auch etwas dauern.
„Wenn ein Mann sagt, er repariert etwas, dann repariert er es auch. Man muss ihn nicht alle fünf Monate daran erinnern“ - dieser weise Satz leuchtet jeder Frau von Verstand und Bildung
unmittelbar ein.
Deswegen wird auch die folgende Überlegung niemanden überraschen:
Wenn Sie einer weiblichen und einer männlichen Testperson ein Bild zum Aufhängen geben - wer, glauben Sie, ist schneller fertig? Ein Mann schaut sich die Wand an, klopft sie mit
bedenklicher Miene ab wie der Doktor einen rachitischen Brustkasten und studiert danach beiden Aufhänger auf der Rückseite des tückischen Objekts. Sodann sucht er erst mal einen
Meterstab
(den man übrigens auf keinen Fall Zollstock nennen darf, will man sich nicht einem halbstündigen, erschöpfenden Vortrag zum Thema Maße und Gewichte aussetzen). Sobald der Stab gefunden ist,
was auch schon mal dauern kann, wird der Abstand der Aufhänger sehr genau vermessen. Dann stellt sich bei Durchsicht eines etwa kühlschrankgroßen mobilen Werkzeugkoffers heraus, dass just die
passenden Dübel / respektive die richtigen Bohrfutter fehlen, die eine fachgerechte Erledigung dieses Auftrags unbedingt erforderlich macht. Daraufhin taucht die männliche Testperson in der Regel
in den nächstgelegenen Baumarkt ab, wo sie die jeweiligen Vorteile neu entwickelter Werkzeuge studiert und sich die dazu in Endlosschleife vor sich her plärrenden Videos genau bekuckt. Die damit
verbundenen Entscheidungen und Preisvergleiche sind natürlich schwer zu treffen und erfordern verständlicherweise entsprechend Zeit. Man kann also froh sein, wenn der Alte schon nach zwei
Stunden wieder daheim ist, mit glänzenden Augen und einer dieser Oberfräsen, von denen nur der Himmel weiß, wozu sie überhaupt dienen. Aber häufiger sind leider die Fälle, in denen der Herr
Gemahl erst nach Einbruch der Dunkelheit wieder auftaucht. Diese Zusammenhänge dürften denn auch der eigentliche Grund dafür sein, dass inzwischen vor jedem Baumarkt eine Currywurstbude eine
bislang schmerzlich empfundene Marktlücke schließt. Keine vernünftige Frau würde den synthetischen Kartoffelsalat, den diese Buden üblicherweise im Angebot haben, auch nur eines Blickes würdigen.
Schon weil sie die komplette Baumarkt-Aktion gar nicht braucht, jedenfalls nicht, um ein Bild aufzuhängen.
Frauen meiner Generation machen das so: sie ziehen ein Stück Schnur durch die beiden Aufhänger auf der Rahmenrückseite (notfalls auch ein Rest Geschenkband oder zwei zusammengeknotete
Schnürsenkel), hämmern ( im Zweifelsfall auch ohne Hammer) einen einzigen Nagel irgendwo in die Wand - und fertig. Unser Bild hängt wie von selbst im Lot und kleine Höhenunterschiede gleicht man
mit der Schnurlänge aus.
Das ist beeindruckend einfach, aber Vorsicht! Denn derlei spontane Improvisationen haben eine Reihe ziemlich gravierender Nachteile. Auch wenn Frauen aus evolutionsbiologischen
Gründen nachgewiesenermaßen leichter Lösungen für derlei kleine Alltagsprobleme finden, sollten wir uns manchmal einfach zurückhalten und uns doof stellen. Zu schlau dürfen wir eben auch
nicht sein, weil wir nämlich so unseren Männern das Gefühl geben überflüssig zu sein. Das haben wir nun von der ganzen Emanzipation - da dachten wir schon, die Männer seien beeindruckt, wenn wir
unsere Reifen selber wechseln oder mangels Rohrzange mit dem Nussknacker mal eben ein verstopftes Abflussrohr öffnen - und nun das! Ich hoffe, die nächste Generation stellt sich wieder ein
bisschen blöd an und redet mit etwas piepsigerer Stimme. Die ersten leisen Töne, scheint mir, sind schon zu vernehmen. Sich dumm stellen schafft nämlich nicht nur Freizeit. Sich dumm
stellen dürfte sich letztendlich auch auf zwischenmenschlicher Ebene positiv auswirken. Wie das? Werdet Ihr Euch jetzt fragen. Weil ganz einfach Paare, die sich nicht wegen
irgendwelcher Bohrfutter streiten, öfter miteinander…..was unternehmen. Man sieht also, der Dübel steckt auch hier, wie so oft, im Detail.
149 Ich meine das übrigens ganz ernst: schicken Sie uns Ihre eigenen Geschichten hierzu auf die Netzseite! Dann haben alle was davon. Das Ganze tut schon nicht mehr ganz so weh,
wenn man weiß, den anderen geht´s genauso. Und wenn Sie mit Ironie schreiben, liest´s jeder gern: Lachen ist schließlich der beste Start zum Denken, wie Kästner sagte. Und andere zum Lachen zu
bringen, gehört zu den sozialen Talenten, mit denen wir alles Antisoziale aushebeln könnten.
150 Die Begriffe „Haben oder Sein“ , ebenso wie „hoch- bzw. nichtproduktiv“ sind in diesem Zusammenhang erstmalig von Erich Fromm (1900-1980) in den Fünfziger Jahren
des vergangenen Jahrhunderts verwendet worden. Er war sein Leben lang von Menschen fasziniert, die ihr Potential ausleben und ihren eigenen Ideen und Idealen folgen, während andere sich im
günstigsten Fall passiv, oftmals aber auch aggressiv verhalten. In einer noch heute wegweisenden Analyse zählte er zum nichtproduktiven Menschenschlag erstens den rezeptiven Typ (der sein
Schicksal passiv erträgt und tatenlos hinnimmt, was ihm geschieht), zweitens den hortenden, im wesentlichen durch Geiz und Gier charakterisierten „Besitzstandwahrer“, drittens den
Ausbeuter und viertens den Manager, der aus allem eine Ware macht. Und dabei auch sich selbst verkauft. Fünftens sieht er noch den nekrophilen Faschisten, der eigentlich nur zerstören
kann - die kursiv gesetzten Begriffe sind übrigens von Fromm genau so gewählt.
In seiner humanistischen Psychologie zeichnet er das Idealbild des produktiven Menschen. Sobald aber die Nichtproduktiven die Macht übernehmen, geht das Licht aus, so seine These.
Das gilt heute ebenso wie damals. Eine wunderbare Einführung in Fromms Denken ist übrigens vor einiger Zeit im Zürcher Diogenes Verlag erschienen (Die Kraft der Liebe: Über Haben und Sein, Liebe
und Gewalt; Leben und Tod. Zürich: Diogenes 2014) (Für den Fall, dass Sie sich fragen sollten, warum ich so wichtige Informationen in einer Fußnote „verstecke“, sei an dieser Stelle
angemerkt, dass in den Anmerkungen dieses Buches überhaupt ein paar ziemlich wichtige Sätze stehen - die gar nicht alle in den Haupttext passen. Ich gehe aber davon aus, dass kluge
Köpfe sie hier ohnehin entdecken und sich einen Reim darauf machen.)
151 „Die Geschichte lehrt, dass die Geschichte nichts lehrt“ sagte Franz Werfel einst. Außerdem fügte er hinzu, dass sie sich wiederhole „wie das Wochenmenü
einer kleinbürgerlichen Hausfrau“ ( in Stern der Ungeborenen, Werfels letzten Werk; er starb wenige Tage nach dessen Vollendung.)
152 Schreiben Sie übrigens ruhig dem einen oder anderen Autor, dessen Werk Sie bewegt hat. Autoren, jedenfalls die meisten von ihnen, freuen sich immer über ein Lob aus
berufenem Munde. Dann weiß man nämlich, wofür und für wen man geschrieben hat. Die Verkaufszahlen allein sagen über den Wert eines Buches nichts aus - das Lob unserer Leser ist für uns weitaus
wichtiger, weil es zu den intrinsischen Motivationen gehört, die im Gegensatz zu den extrinsischen (von außen kommenden) Anreizen in uns selbst liegen. Anerkennung zum Beispiel ist eine
intrinsische Motivation, Geld und Ruhm aber sind extrinsisch: die Psychologie hat diesen feinen Unterschied schon seit einer ganzen Weile erforscht, aber glauben Sie ja nicht, dass man sich in
der Wirtschaftswissenschaft von derlei neuen Erkenntnissen beeindrucken ließe: einem ökonomischen Dogma zufolge ist der homo oeconomicus nur durch Geld zu motivieren. Was tagtäglich
weltweit zu Milliarden von Fehlentscheidungen führt. Ich darf gar nicht drüber nachdenken.
153 So wurden im Herbst 2012 - um nur ein paar wenige, zufällig ausgewählte Beispiele zu nennen - gleich zwei Außenseiter zu Bestellern: Stephen Greenblatt: Die Wende -
Wie die Renaissance begann. (Berlin: Siedler 2012) und Adam Zamoyski und Ruth Keen: 1812. Napoleons Feldzug in Russland (München: C.H.Beck, 2012). Auch mit dem großen Erfolg von Christopher
Clarks hat so gut wie keiner gerechnet: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. (München: DVA. 2014). Vergessen wir auch nicht den sehr überraschenden Erfolg der Letters
of Note, einer Sammlung berühmter Briefe, die der Heyne Verlag im Herbst 2014 herausbrachte und die sofort vergriffen war - über siebzig Millionen Menschen waren auf der Website dazu unterwegs,
man stelle sich das einmal vor! Dabei denkt man doch, dass sich mit etwas so Langweiligen aus prädigitaler Urzeit kein Hund mehr hinterm Ofen hervorlocken lässt - aber da sieht man eben, wie man
sich täuschen kann.
154 Die Buchpreisbindung ist auch unabhängig davon, wie diese TTIP Geschichte ausfällt, in Gefahr. Denn seit sich unsere Regierungen - ohne Not und ohne unseren
demokratischen Auftrag wohlgemerkt - dem Diktat eines neoliberalen Marktes unterworfen haben, ist auf nichts mehr Verlass. Dieser Markt hat es immer mächtig mit angeblich die
Chancengleichheit gefährdenden „Wettbewerbsverzerrungen“, versucht tatsächlich aber nur einem brutalen Verdrängungswettbewerb Tür und Tor zu öffnen, indem er den Staat daran hindert, irgendwelche
Marktsegmente direkt oder indirekt zu subventionieren. Denn diese Gelder gehen schon wieder vom Gewinn ab, den ein Quasimonopolist hier machen könnte - wir wissen inzwischen ja alle, wie der Hase
läuft.
Der Himmel bewahre uns vor einem Buchmarkt, auf dem nur noch die Dominik K.s ansagen, was gemacht wird und was nicht! Bücher sind der Schlüssel zu unserer Zukunft - und wenn der Markt uns
vorschreibt, wo wir entlang denken dürfen, kommt alle Hilfe zu spät. Denn dann wird nur noch das Billige gemacht, das Banale. Und vor allem das Zensierte. Dabei wäre die Lösung
relativ einfach: der Markt kann mit seinen pseudodemokratischen Kontrollinstanzen diese Macht nur ausüben, weil wir sie so bereitwillig akzeptieren und die demokratische Legitimation nicht in
Frage stellen. Wenn wir uns davon aber nicht ins Bockshorn jagen lassen, können die Burschen gar nichts machen - nach dem Motto: stell dir vor, die Preisbindung fällt und keiner macht
mit.
Vielleicht könnte der Börsenverein des deutschen Buchhandels seinen Mitgliedern zu Weihnachten mal eine Trillerpfeife verehren. Damit wir alle ganz einfach auf die internationale
Plattmacher & Co.KG pfeifen. Das würde Eindruck machen! Vielleicht könnten wir auch an die Privatadressen der Bulldozer, die unsere Kultur zu zerstören versuchen, auch ein paar Müllsäcke
schicken: damit sie ihre destruktiven Pläne in die Tonne hauen können. Die Welt lässt sich auch mit ein paar guten Metaphern retten…. Wir werden uns von diesen Analphabeten doch nicht
vorschreiben lassen, wie unsere Kinderbücher demnächst auszusehen haben! Wäre ja noch schöner.
155 Die „Indies“ stehen für „independent publishing houses“ bzw. auch „bookstores“, für jene Dickköpfe also, die sich Gott sei Dank ihre Unabhängigkeit bewahrt haben. Es gibt
inzwischen einen Indiebookday (26.März), der blauäugig davon ausgeht, dass wir gegen die großen Konzerne eine Chance haben. Die Assoziation „Indies“ und Indien dürfte bei der Namensgebung
mitgespielt haben: als „indies“ haben wir etwas definitiv Dritte-Welt-Haftes, was gar nicht so schlecht ist, denn gerade Indien erfreut sich allgemein größter Wertschätzung.
156 Werner Siefer ist Biologe und Wissenschaftsjournalist, der unter anderem für den Focus und die Süddeutsche Zeitung arbeitet. In seinem Buch Wir - und was uns zu Menschen macht (
Frankfurt: Campus-Verlag 2013) entzaubert er nicht nur den Mythos des Survival of the fittest, er entwickelt außerdem eine ganz eigene und sehr schlüssige Idee zur Rolle der Großeltern in der
Geschichte menschlicher Evolution. Und das ist in der einschlägigen Literatur ganz und gar einmalig. Auch Siefers neues Buch Der Erzählinstinkt. Warum das Gehirn in Geschichten denkt.
München: Hanser 2015 sei Ihnen hier sehr empfohlen: hier weist er sehr anschaulich nach, wie alles Erzählen eine Gesellschaft und ihre Werte formt. Womit er natürlich jedem Buchhändler aus
der Seele spricht.
157 Polonius sagt ´s im ersten Akt des Hamlet, nur leider ereilt den Bedauernswerten kurz darauf ein eher ungnädiges Schicksal, so dass sich letztlich nicht entscheiden lässt, ob es
Shakespeare mit der Sache nun ernst war oder nicht. Bei Hamlet selbst ist das schließlich auch nicht so ganz eindeutig. Da die Sache bekanntlich äußerst tragisch endet, gehe ich nicht weiter
darauf ein, weil die Geschichte ohnehin nicht in mein von schon fast pathologischem Optimismus geprägtes Weltbild passt.
158 der übrigens aus Gründen, über die noch zu berichten sein wird, unbedingt anonym bleiben will.
159 Am Abend zuvor haben sie vielleicht noch die eine oder andere Schöne, die sie am oben näher beschriebenen Tresen noch mit dem Satz „Business allein hier?“ auf einen Schampus eingeladen.
Gut, das ist jetzt zwar nur eine Vermutung, aber ich wette, dass ich damit gar nicht so falsch liege.
160 Tatsächlich ist die gefährliche Toleranz, die wir unseren Banken auch nach der großen Krise gewähren, etwas, das geändert gehört: die Isländer haben uns gezeigt, dass das sehr gut geht - und
haben ihre kleine Insel wieder in so etwas wie ein Musterländle verwandelt. Wir hingegen? Tja.
Unlängst las ich einen Artikel von kaum zu überbietender Schnöselhaftigkeit in der Zeitung. Deutschland fehle es an Gründern, hieß es darin. Denn offensichtlich seien „wir“ bequem
geworden, ein einig Volk aus Stubenhockern, Langweilern und Dumpfbacken. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mich diese Art von billiger Kritik an „den Deutschen“ nervt und an diesen
ewigen Verallgemeinerungen, die einem den Blick dafür verstellen, dass die Dinge ganz anders zusammenhängen.
Denn tatsächlich wird uns überall der Geldhahn zugedreht, das sieht selbst ein Blinder mit dem Krückstock. Allein schon deswegen brauchen wir uns derlei Kommentare nicht gefallen zu
lassen!
Und da wir schon einmal dabei sind: im zweiten Band des Handbuchs verrate ich Ihnen einen wunderbaren Trick hierzu. Man versuche einmal ohne Kredite zu arbeiten. Das geht durchaus, wenn auch
leider nicht in jeder Branche. Man fängt eben etwas kleiner an, lässt konsequent alles Geld in der Firma, konzentriert sich auf das, was man tut - und siehe da: die Firma wächst und gedeiht
aufs schönste. So habe ich´s seit dreißig Jahren immer gemacht. Und ich habe jetzt auch keine ganz kleine Firma ( vergleiche hierzu auch Fußnote 253.)
161 Über die Einschüchterungsvokabeln, mit denen man uns in Politik und Wirtschaft allen Schneid abkauft, wäre schon noch das eine oder andere anzumerken. So tut man uns zum Beispiel, die
Vernünftigen, gern als Chaoten ab, als Traumtänzer, gern auch als Fortschrittsverhinderer. Solche Wörter legen Meinungen fest, sogar die der Wortschöpfer: schließlich glauben sie
selber daran, dass zu den „Exzellenzinitiativen“, die unsere vermeintlich innovationsfreudigen Volksvertreter allenthalben gründen, auf keinen Fall Chaoten wie wir Zutritt haben dürfen.
Es gibt unter anderem (steuerfinanzierte) Konferenzen, die sich der „Zukunft der Pflanze“ widmen, zu denen aber nur Genforscher und ihre Lobbyisten geladen werden, nicht aber Vertreter
biologischen Landbaus - um nur ein Beispiel von Dutzenden zu nennen, was die Experten alles zu verhindern wissen: keine einzige Zivilgesellschaft, keine einzige Umweltschutzorganisation darf bei
den ( ich sag´s noch mal: steuerfinanzierten ) Zukunftswerkstätten dabei sein.
Will sagen: wir, die Chaoten, haben absolut kein Mitspracherecht. Nicht bei den Forschungsagenden. Nicht bei den Etatvergaben und anderen Interna. Eine völlig fehlgeleitete, abgehobene
politische Clique will uns einfach nicht dabei haben. Ich weiß nicht, wie es Ihnen damit geht, aber mir raubt allein dieser Gedanke zuweilen den Schlaf.
Besonders schlimm ging es mir, als ich unlängst las, dass man sich in einer Reihe dieser Exzellenzintiativen über eine Verdreifachung des Flugverkehrs (!) geeinigt hat. Unter
Ausschluss der Öffentlichkeit natürlich. Kein einziger Umweltschützer, kein (unabhängiger ) Klimaexperte war geladen. Wir, die Störenfriede, müssen draußen bleiben. Wer sich die
Teilnehmerlisten genau bekuckt, wird darauf Namen finden, die er kennt: Banker, die 2007 Milliarden in den Sand gesetzt haben, mischen da mit - dieselben (s.o.) Finanzakrobaten also, denen wir
die bislang größte Pleite der Geschichte zu verdanken haben. Greenpeace aber darf nicht rein. Da soll doch einer.
162 Michel Ayme, französischer Musiker, Komponist und Regisseur.
163 Ich würde mir sogar den Dackel als Wappentier erkiesen, sollte ich mal in die Lage kommen, von der Queen zum Beispiel geadelt zu werden. Doch das ist leider nicht sehr
wahrscheinlich. Die Queen hat da auch sehr enge Vorgaben: so musste sie den bereits weiter oben erwähnten Drachen in den Adelsstand erheben, der mit seiner Beton-Frisur und seinen ebenso
festgefügten (neo-liberalen) Glaubenssätzen lange Zeit ganz Europa zu terrorisieren wusste. Ich nenne hier keine Namen, höchstens einen passenden Spitznamen: Maggie Messer. Dass diese Dame noch
im November 1989 zu Gorbatschow nach Moskau reiste und dort mit dem Regenschirm auf den Tisch schlug, um die Wiedervereinigung zu verhindern - das, liebe Leser, nehme ich ihr echt
übel. Plus die mutwillige Zerstörung des zweifellos schönsten Eisenbahnnetzes der Welt, die wir hierzulande natürlich gleich nachmachen mussten. Darüber ist unser wunderbarer Vater
(leidenschaftlicher Eisenbahner) auch nie hinweggekommen.
164 Diese Dachterrassen sind übrigens eine Lindauer Besonderheit. Sie werden - nicht ganz korrekt - als Altanen bezeichnet. Ihren glücklichen Besitzern eröffnen sie die ungewöhnlichsten
Aussichten auf eine zauberhafte Altstadt, der sie ein fast schon mediterranes Flair geben. Ursprünglich dienten diese Terrassen jedoch nicht eitlem Müßiggang und auch nicht der Anzucht von
Basilikum für die Insalata Caprese, sondern dem gottgefälligen Zweck des Wäschetrocknens. Ich habe das große Glück, eine solche Altane benutzen zu dürfen - sie befindet sich über dem
Dachkämmerchen, das mir meine Vermieterin freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Hier, in meinem Elfenbeintürmchen, habe ich See- und Bergblick, eine Drei-Sterne-Aussicht also,
für die ich gern die unbestreitbare Tatsache in Kauf nehme, dass es darin zieht wie Hechtsuppe. Ohne eine Wärmflasche ist, wie gerade jetzt im Dezember, der Aufenthalt in diesem Gelass kaum zu
ertragen. Dafür ist es im Sommer schön warm. Aber der Blick von hier oben ist all die Mühe wert und veranlasst mich zuweilen zu der Überlegung, ob ein höherer Standpunkt nicht
tatsächlich neue Perspektiven eröffnet: wer zum Beispiel auf den Lindauer Leuchtturm klettert, was sehr empfehlenswert ist, steht über den Dingen und sieht plötzlich so viel Neues, das vorher
nicht da zu sein schien. Kreative Profis wissen das: es bringt jedes Mal etwas, die Perspektive zu wechseln. Und Lindau ist der ideale Ort dafür. Denn hier gibt es nicht nur den Leuchtturm
- sondern auch jede Menge Berge, auf die ich als überzeugte Plattdeutsche persönlich zwar nicht so stehe. Aber sie erfüllen eine ähnliche Funktion: sie bringen uns auf völlig neue Ideen.
165 Die Infoblase ist ein noch ziemlich neues Wort, das sich auf einen hochseltsamen Effekt bezieht - nämlich darauf, dass sich das Internet nicht für jeden gleich darstellt.
Wie das?, werden Sie jetzt sicher fragen. Ich war selber erstaunt, als ich vor nicht allzu langer Zeit davon hörte. Es klingt unglaublich, aber es ist wahr: wenn Sie auf Ihrem Rechner ein
Stichwort eingeben und ich auf meinem exakt das gleiche, bekommen wir unterschiedliche Antworten - die Gewichtung hängt nämlich von unseren zuvor entstandenen Suchverläufen ab. Das ist ein
Gedanke, über den man schon ins Philosophieren geraten könnte… Meine Kollegin Angela Roeder erzählte mir unlängst, dass sie bei einem Besuch bei einem ihrer zahlreichen Cousins auf eben
dieses Thema zu sprechen kam. Woraufhin er den schönen Satz prägte: „Wozu immer googlen? Man kann genauso gut auch brockhausen.“ Brockhausen wir also hin und wieder! „Be a little analog“, das
schlägt auch Julius Hendricks vor (München:Thiele 2015) und dieser Julius ist - wohlgemerkt - etwas über zwanzig. Also kein alter Knochen, der in nostalgischen Erinnerungen an jene schöne Zeit
schwelgt, da „wir zum Surfen noch ans Meer gefahren sind“, wie ein gerade eben bei Kiwi erschienenes Buch titelt…
166 Das allein hat sie mir immer sehr sympathisch gemacht! Denn alle Mathematik mag ja vielleicht ganz nützlich sein, das will ich gar nicht in Abrede stellen. Auch geometrische
und sogar physikalische Grundkenntnisse halte ich für überaus praktisch, schon weil sie einen daran hindern, Regale (zum Beispiel) zusammenzudrallern, die dann nicht halten, was sie
versprechen. Ich habe also nichts gegen Zahlen an sich. Ich habe auch nichts gegen Haare, wo man sie natürlicherweise erwarten darf. Auf dem Kopf zum Beispiel. Vor mir aus auch auf anderen Teilen
der Anatomie, obwohl sie mich auf weiblichen Unterschenkeln schon sehr stören. Auch Haare auf den Zähnen sind unschön. Zahlen, die da auftauchen, wo sie ganz und gar nichts zu suchen haben,
nerven allerdings noch viel mehr!
167 bias bezieht sich in seiner Grundbedeutung eigentlich auf alles „Schiefe, Schräge“ ( vgl. französisch biais= schief). Auf solchen Ebenen schlittert man ganz leicht schon mal
in Lagen, aus der nur eine eingeschränkte Sicht auf die Wirklichkeit möglich ist: daher versteht man unter bias das Vorurteil, die sichtbehindernden Tomaten auf den Augen sozusagen.
168 Das Interesse der Verhaltensökonomen ist allerdings nicht ganz selbstlos - in den Werbeabteilungen rings um den Globus will man nämlich ganz einfach mehr darüber
wissen, woher unsere spontanen (Kauf-) Entscheidungen stammen bzw. auch wodurch sich unsere intuitive Ablehnung erklärt. Dafür zahlen die Auftraggeber eine ganze Menge Geld, aber sie haben
es ja. Klingt eigentlich harmlos: Verhaltensökonomie. Tatsächlich werden Psychologen dafür bezahlt, dass sie den Werbefachleuten Infos bieten. Zum Beispiel die weltbewegende Erkenntnis,
dass wir logischen Verkaufsargumenten tatsächlich weniger Gewicht beimessen als der Frage, ob der Verkäufer uns sympathisch ist. Die (intern) so genannte „Buyology“ ist im Grunde die
Wissenschaft der Verführung. Das klingt bedrohlich nach Big Brother und tatsächlich versuchen uns die Jungs im Verein ihren Hiwis auch auszuspionieren, um dann das ganz große Geld machen zu
können. Aber seien Sie getrost: diese von falschen Motiven geleiteten Intelligenzbestien sind gar nicht fähig, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Obwohl sie inzwischen über glasklare
Beweise dafür verfügen, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen intuitiv sozial zu handeln versucht - sie erkennen es nicht mal. Sie sind nämlich selber Opfer eines Effekts, den
sie entdeckt zu haben glauben - des False-consensus-Effekts: sie schließen leider von sich auf andere. Da sie diese Dollarzeichen im Auge haben, denken sie, geht es anderen ebenso. Ganz schlimm
wird es übrigens, wenn ein paar dieser Strategen dann noch ein paar halbgare Artikel oder gar Bücher zu dem Thema schreiben und es mit den Quellenangaben nicht ganz so genau nehmen.
Ich könnte Ihnen ein paar Beispiele nennen, doch das verbietet mir leider der Anstand. Eine gute Kinderstube schließt einen eben von so manchem aus.
169 Einer dieser Verhaltensökonomen beschrieb unlängst in einem (internen) Newsletter, wie schwierig es ist, den Auftraggebern dieser Studien die Frohe Botschaft zu vermitteln, dass man
sich leider jahrzehntelang im Irrtum befand, was die grundsätzliche Natur des Menschen betrifft. Der homo oeconomicus, erklärte er, ist tatsächlich ein Fabelwesen, das in freier Wildbahn
nicht häufiger anzutreffen ist als ein Wolpertinger. Doch das will im Grunde keiner hören, denn dann müsste man ja umdenken. Und ein paar zu cholerischen Ausfällen neigenden Alphatiere darüber
ins Bild setzen, was man lieber unterlässt. Also schaut man weg und stellt lieber das ganze Projekt ein oder kauft sich neue Wissenschaftler, die das altgewohnte Weltbild nicht übern Haufen
werfen. Weswegen gerade in der Verhaltensökonomie jetzt wieder die Parole ausgegeben wurde: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.“
Aber es gibt auch ein paar mutige Verhaltensökonomen wie den bereits oben erwähnten Dan Ariely, der auf die positive Eigendynamik ihrer durchweg optimistisch stimmenden Forschungsergebnisse
setzen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mich das freut: da suchen diese Teufel nach neuen wissenschaftlichen Methoden der Beeinflussung und plötzlich, siehe da, stellt sich das Gegenteil von
dem heraus, was man gern hätte. So ist auch einer der einflussreichsten Werbefachleute der USA, Martin Lindstrom, vom Saulus zum Paulus geworden. Als das auch unter der unheimlichen Bezeichnung
Neuromarketing lancierte neue Werbekonzept großer Marken propagiert wurde, hatte Lindstrom die Nase voll: er schrieb die (im Frankfurter Campus-Verlag veröffentlichte) Buy-ology: warum wir
kaufen, was wir kaufen und etwas später Brandwashed: was du kaufst, bestimmen die anderen ( ebd. 2013). Auch in den noch nicht ins Deutsche übersetzten Büchern Brandchild - hier geht es um
die Tricks, mit denen Kinder süchtig gemacht werden sollen - und Small data leistet Lindstrom Aufklärungsarbeit. Man kann vor so viel Courage nur den Hut ziehen. Lindstrom verdient mit
diesen Büchern garantiert nicht soviel Geld wie einst als Werber. Aber ich glaube, es war ihm wichtiger, sich selber treu zu bleiben. Heute ist er als gefragter Trendforscher unterwegs - als
Brancheninsider hat er Einsichten gewinnen können, die sonst niemand hat. Außerdem erzählt er Geschichten, da schlackern Ihnen bloß die Ohren!
170 Deswegen sind unsere zehn ( lat.decem/ decimus) Finger denn auch der Grund dafür, dass wir noch heute ein „Dezimalsystem“ haben, auf dem u.v.a. nicht nur alle Prozentrechnerei sondern auch
jede DIN-Norm beruht, jede Schraube und letztendlich unsere schöne neue digitale Welt ( vgl.digitus lat. Finger). Nur die Angelsachsen sind auf das Dutzend verfallen (was vielleicht
mit dem Kalenderjahr zu tun hat), sowie auf eine Reihe anderer esoterischer Maße und Gewichte, vom inch, über den foot und den Yard zu diversen miles, die verwirrenderweise noch in
See- und andere Meilen zu unterscheiden sind, weil wir ja sonst nichts zu tun haben. Vollends den Vogel haut es einem jedoch bei den Cups heraus, auf denen jedes angelsächsische
Rezept beruht, so dass bei aus dem Englischen übersetzten Kochbüchern auch schon mal hundertsiebenundsechzig Gramm Mehl kommen, die man für ein Muffinrezept braucht, neben
zweihundertfünfundvierzig Gramm melted butter und dreihundertachtundsiebzig Gramm Schokolade. Dann braucht man nur noch ein knappes Kilo Philodendron-oder-wie-er-heißt-Frischkäse
hinzuzugeben und schon hat man die Muffins, die in etwa so gut verdaulich sind wie eine Kanonenkugel, zumindest fühlt es sich so an. Mein Tipp - vergessen Sie derlei Rezepte ganz
einfach. Kulinarisch gesehen ist ohnehin noch nie etwas Gutes auf angelsächsischen Boden gediehen und diese Muffins sind ohnehin die Pest.
Außerdem können Sie - ungelogen - von hundert Gramm dieser Kleistermasse spontan ein Pfund zunehmen. Das ist nicht besonders logisch, aber leider wahr. Warum das so ist, darüber denke ich schon
lange nach, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Wenn Sie diese schlichte Erfahrungstatsache erklären können, schreiben Sie mir ganz einfach.
171 Römischen Zahlen sieht man noch an, dass sie zunächst für eher grobe Werkzeug entwickelt wurden: I, II, II, V, X, L, M - mit Ausnahme von C lässt sich alles leicht
einmeißeln. Das kriegt notfalls auch ein Grobmotoriker hin. Dass die (Spät-)Antike noch gar nicht so lange vorbei ist, merkt man noch heute an Ausdrücken wie „Jemandem ein X für ein U vormachen“.
Das U - eine durchaus übliche Schreibvariante für die lateinische Fünf (V) - ist etwas ganz anderes als ein X ( das lateinische Kürzel für zehn also). Wer des Lesens nicht mächtig war, was
im finstren Mittelalter ja eher zum Standard gehörte, den konnte man eben leicht übers Ohr hauen. Man sieht also: Bildung hilft, wenn es darum geht, sich nichts vormachen zu lassen. Immer schön
nachdenken, genau hinsehen, und notfalls den Bösewichtern Daumenschrauben anlegen, sonst kriegen wir die Sache nie in den Griff! Hier noch eine Anmerkung zur Anmerkung: jenseits
des Limes bestand das Kerbholz ( der besseren Haltbarkeit wegen) aus harter Buche. Daraus wurden dann - ta ta! - unsere Buchstaben und schließlich das Buch selbst (obwohl es zurzeit ein paar
Linguisten gibt, die das bezweifeln). Die Antike ist also allgegenwärtig, das Mittelalter dito und wer sich hin und wieder mit (Sprach-)Geschichte beschäftigt, wird finden, dass sie ein oftmals
verblüffend neues Licht auf die Dinge wirft.
172 Das ist auch der Grund dafür, warum ich in einer meiner Buchhandlungen hier in Lindau, dem „Gutenberg-Laden“, der auf Buch- und Schreibkunst spezialisiert ist, eine
Papyrus-Pflanze stehen habe. Den Kindern, die kommen, erkläre ich das immer sehr gerne. Ich zeige ihnen auch, wie man(mit einem stilus) auf echten Wachstafeln, wie die Römer sie hatten,
schreibt. Die Bezugsadresse für solche historischen Schreibmaterialien verrate ich Ihnen gern. E-Mail genügt: info@altemoellersche.de
173 So ist das immer! Erst bastelt sich einer ein Schnitz- oder Frühstücksmesser, schon macht einer eine Waffe daraus! Erst kommt die Radioröhre, dann der Volksempfänger. Erst die
Lottofee und jetzt Dieter Bohlen und DSDS. Und das nennt sich dann Fortschritt. Man sollte eigentlich gar nichts mehr erfinden. Oder doch, ja, ein Banausen-Detektor wäre nicht schlecht.
Damit man die Dominik Ks. gleich lokalisieren und isolieren kann, bevor sie noch mehr Blödsinn anstellen.
174 Am besten lösen übrigens Gruppen derlei komplexe Aufgaben: der Mittelwert aus sämtlichen Schätzungen einer Reihe von Menschen trifft die tatsächliche Zahl fast
immer ziemlich präzise, während angebliche Spezialisten sich so gut wie immer verhauen und meilenweit danebenliegen. Darüber ist in den leider, leider noch allzu seltenen Büchern über
Schwarmintelligenz mehr zu erfahren, vor allem in dem Standardwerk dazu: Len Fisher Schwarmintelligenz. Wie einfache Regeln Großes möglich machen. Eichborn Verlag, 2010. Warum es so wenig
Literatur zu diesem Thema gibt, liegt vielleicht daran, dass der „Masse“ bisher niemand allzu Vernunft zugetraut hat, weswegen von dieser „Masse“ auch stets mit unverhohlen negativem
Unterton die Rede ist. Dass „Massen“ sich von Demagogen und Werbern verführen lassen, die sich den Anschein von Anständigkeit geben, ist kein Beweis dafür, dass diese Masse dumm ist, wenn auch
etwas zu vertrauensselig: sie hat einfach nicht Phantasie genug sich vorzustellen, dass sie vielleicht ausgenutzt werden könnte. Und doch hat sie in der Regel mehr gesunden
Menschenverstand, als man ihr zugesteht - oder lehne ich mich mit dieser intuitiven Annahme zu weit aus dem Fenster?
Immerhin befinde ich mich mit dieser Hypothese in guter Gesellschaft: seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ist von der „Tragik der Allmende“ die Rede, das heißt von dem angeblich egoistischen
Umgang mit dem, was allen gehört. Daraus glaubte man die Pflicht, die Allmende zu privatisieren, ableiten zu dürfen. Nun hat aber die amerikanische Ökonomin Elinor Ostrom (1933-2012) nachweisen
können, dass Gemeinden durchaus vernünftig mit dieser Allmende umgehen, wenn man sie lässt. Die Umweltökonomin Ostrom hat also ein altes Vorurteil abgeschafft und wurde dafür 2009 mit dem
Wirtschaftsnobelpreis geehrt. Wenn das nicht zu Hoffnung Anlass gibt.
175 Unsere sozialen Fähigkeiten sind ohnehin nur auf überschaubare Gruppen von Menschen ausgelegt. Ethnologen gehen davon aus, dass wir - je nach Weltgegend -
zu durchschnittlich zehn bis maximal fünfzig Personen nähere Beziehungen aufbauen. Deswegen spenden wir gern für die Tombola unserer Gemeinde, schämen aber uns irgendwie, wenn wir uns selbst
dabei erwischen, dass wir für ein Brunnenprojekt in der Sahara nicht mit derselben Begeisterung bei der Sache sind. Wir sind in unserem Sozialverhalten nämlich ganz eindeutig auf
kleinere Gesellschaften von Clan-Stärke programmiert - mehr Plätze sind in unserem Herzen irgendwie nicht zu vergeben. Nur Ausnahmemenschen vom Format eines Gandhi, einer Mutter Theresa,
eines Nelson Mandela haben ein so großes Herz, dass auch Hunderte, wenn nicht Tausende darin bedacht werden können. Normalsterbliche wie wir neigen wir jedoch dazu, Stressgefühle schon zu
entwickeln, wenn zu viele Menschen um uns herum sind, vor allem welche, die wir nicht kennen. Quälen Sie sich nicht mit dem Gedanken, dass wir für alle da sein sollten, dass wir allen gegenüber
diese umfassende Menschenliebe entwickeln müssten, die feinsinnige Menschen sich abverlangen, denn das ist gar nicht zu schaffen. Tun Sie ganz einfach das, wofür unser Gehirn gemacht ist.
Wenn nämlich jeder von uns wirklich die zwanzig, dreißig Menschen verwöhnt, die wir als unseren Clan betrachten, hätten wir im Nu sämtliche Probleme im Griff - einschließlich der in
der Sahara. Wenn wir es fertigbrächten, so eine Art Schneeballsystem des Guten zu etablieren, wäre alles gewonnen!
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